Gefangene Seele
Gerücht herum, dass er schon Leute operiert hatte, ohne überhaupt deren Namen zu kennen. Das war genau das, was Otis brauchte.
Heute war es so weit: Er würde die ersten Schritte unternehmen, ein neues Aussehen zu bekommen. Dazu gehörten eine Nasenkorrektur, Wangenimplantate und vielleicht auch ein wenig Wegschneiden an den Augen und unter seinem Kinn, um die Zeichen seines exzessiven Lebensstils zu beseitigen. Er kannte jemanden, der ihm die Produktionsfirma abkaufen würde. Auch wenn er dieses Unternehmen ohne Reue abstoßen würde, wäre er immerhin ein sehr reicher Mann. Zur Hölle mit den Leuten, die nicht vergessen oder verzeihen konnten und mit dem nervigen Typen, der ihn angerufen hatte. Sobald der Arzt ihm erlaubte, wieder zu reisen, wäre er schon unterwegs. Unterwegs und weg.
Michael Tessler war schon seit Jahren Sam Cochranes Hausarzt, aber noch nie war er um einen Hausbesuch gebeten worden. Dass er einfach nur neugierig war, war noch geschmeichelt. Als er den Anruf von Luke Kelly bekam, hatte er sich sofort einverstanden erklärt. Wie alle anderen Bürger von St. Louis hatte er davon gehört, dass Sams Tochter wieder aufgetaucht war und dass sie zu Sams Freude nach Hause zurückgekehrt sein sollte.
Aber jetzt, als er durch das Spalier der Funkwagen und Reporter, die am Straßenrand parkten, fuhr, verstand er, warum ein Hausbesuch nötig war. Wenn jemand das Haus verlassen hätte, wäre das nicht ohne einen Aufstand der Medienleute geschehen. Als die Nachrichtenteams sahen, dass er auf die Auffahrt von Sam Cochrane fuhr, gingen die Scheinwerfer und die Kameras an. Er versuchte, sein Gesicht zu verbergen und eilte den Weg zur Tür hinauf. Velma öffnete ihm, bevor er klingeln konnte.
“Kommen Sie herein, Dr. Tessler. Ich gehe mit Ihnen nach oben.”
Tessler stand schon auf der Treppe, als Sam plötzlich am oberen Absatz auftauchte.
“Michael … ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dir für mich die Zeit nimmst.”
“Ist mir ein Vergnügen”, gab Tessler zurück. “Und herzlichen Glückwunsch, dass man deine Tochter gefunden hat. Geht es ihr nicht gut?”
“Ja, es ist wirklich ein Wunder, dass sie wieder da ist”, sagte Sam. “Aber es geht nicht um sie. Komm mit.”
Sam öffnete die Tür. Jade saß in einem Stuhl an Raphaels Bett. Als er ihren gequälten Gesichtsausdruck sah, tat es ihm im Herzen leid, aber er wusste, dass er eine Fremde nicht trösten konnte, die ihn nicht an sich heranließ.
“Jade, das ist Dr. Tessler. Er ist ein hervorragender Arzt und ein alter Freund von mir. Er wird sich um Raphael kümmern.”
Jade stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
“Er schläft”, sagte sie.
“Jetzt nicht mehr”, sagte Raphael, rollte sich auf die Seite und stand auf. “Dr. Tessler, ich bin Raphael. Danke, dass Sie gekommen sind.”
Michael Tessler hatte viele Patienten in seiner Amtszeit gesehen, und auf den ersten Blick ging es diesem Patienten tatsächlich nicht sehr gut.
“Ich helfe gern”, sagte er und stellte dann seinen Arztkoffer ab, bevor er seinen leichten Mantel auszog. Dann lächelte er Sam und Jade an.
“Wenn Sie beide uns jetzt entschuldigen wollen … ich möchte den Patienten untersuchen.”
Jade runzelte die Stirn. “Oh nein, ich glaube …”
“Nein, Jade, geh’ mit Sam hinaus. Wir reden später, okay?”
“Ich will aber nicht.”
“Ich weiß, aber ich bitte dich trotzdem darum.”
Jade unterdrückte die Tränen und ging mit eingezogenem Kopf aus dem Raum, während sie Sams ausgestreckte Hand nicht sehen wollte.
Sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war, wandte sich Michael Tessler an Raphael.
“Also, junger Mann, was ist mit Ihnen, können Sie mir das sagen?”
“Ich habe Aids. Außerdem habe ich Leberkrebs, und ich sterbe.”
10. KAPITEL
D er Arzt war schon weg, aber Jade war bisher noch nicht wieder bei Raphael im Zimmer. Sie hatte Tessler mit Sam sprechen hören, es war von Krankenhausaufenthalt die Rede. Schließlich schüttelte Michael Tessler Sam zum Abschied die Hand. Sie beobachtete die Haushälterin dabei, wie sie aus der Küche kam und ein Tablett die hintere Treppe in den zweiten Stock hinauftrug. Darauf waren das Getränk und die Suppe, um die Raphael zuvor gebeten hatte. Jade wusste, dass sie hinaufgehen und schauen sollte, ob Raphael etwas brauchte, aber ihre Beine waren zu schwach, um sie zu tragen. So saß sie also auf einem Sessel in der Eingangshalle und faltete ihre Hände im Schoß und wartete
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