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Gefangene Seele

Gefangene Seele

Titel: Gefangene Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sharon Sala
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Erdgeschoss trat Luke aus der Bibliothek, in die er sich zurückgezogen hatte, als er Jades zögernde Schritte auf der Treppe hörte. Es tat ihm in der Seele weh, wie es ihr gehen musste, aber dass würde sie nie erfahren. Außerdem verstand er es selbst nicht, wie diese Frau ihm so schnell unter die Haut gehen konnte, obwohl er sie kaum kannte. Er hatte gesehen, wie zerbrechlich sie war. Das allein hätte ihn abschrecken sollen. Stattdessen wollte er sie in den Arm nehmen und sie vor all den üblen Dingen beschützen, die es auf der Welt gab.
    Luke war das Gegenteil eines jungen Mannes, der noch grün hinter den Ohren war. Dennoch fühlte er sich wie ein vierzehnjähriger hirnloser Teenager, wenn er mit Jade zusammen war. Was er von ihr wusste, jagte ihm Angst ein: Er fürchtete, sie noch mehr verletzen zu können, als er es eben gerade schon getan hatte. Aber ebenso wenig konnte er ihr scheinbar aus dem Weg gehen. Also trat er an den Fuß der Treppe und wartete und lauschte auf das Gespräch von oben, das das Ende ihrer kleinen zerbrechlichen Welt darstellen würde. Die Stille dauerte an, und das Einzige, was Luke hören konnte, war das gleichmäßige kräftige Schlagen seines Herzens.
    Dann gellte ein Schrei durch die Stille – ein hohes markerschütterndes Jaulen, das Luke die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Er schloss die Augen und ließ es zu, dass der Schmerz, den dieser Schrei ausgelöst hatte, ihm durch den Körper fuhr, bis er selbst glaubte, sterben zu müssen.
    Jetzt wusste sie es. Herr im Himmel, nun wusste sie Bescheid.
    Er wandte sich von der Treppe ab und stolperte den Flur entlang zur Bibliothek. Luke schluckte schwer. Er konnte nicht selbst fahren, das wurde ihm jetzt klar.
    “Luke?”
    Sam kam ihm im Flur entgegen.
    “Ich muss mal telefonieren. Ich muss mir ein Taxi rufen”, antwortete Luke.
    “Ich fahr dich”, entgegnete Sam.
    Luke schüttelte den Kopf. “Nein, du hast sie gerade eben gehört. So, wie sie die Nachricht aufgenommen hat, braucht sie dich jetzt. Du musst hier bleiben.”
    Sam seufzte. “Aber sie will mich nicht. Das weißt du auch.”
    “Sie weiß nicht, was sie will”, sagte Luke. “Also geh hoch, und zeige ihr, wonach sie sich die letzten Jahrzehnte gesehnt hat.”
    Sams Stimme überschlug sich, und zum ersten Mal sah er wirklich aus wie sechzig Jahre alt.
    “Herr im Himmel, Luke … ich möchte es wohl gern, aber ich weiß doch gar nicht wie. Verdammt … Ich weiß überhaupt nicht, was los ist.”
    “Das sage ich dir, was los ist. Deine Tochter wird ihren besten und einzigen Freund verlieren. Raphael ist todkrank. Jetzt geh’ schon hoch, geh’ in ihr Zimmer und hilf den beiden, um das zu trauern, was sie verlieren werden. Soweit ich weiß, hatte keiner von beiden einen Vater. Geh’ hin und zeige ihnen, was es bedeuten kann, einen Vater zu haben, bevor es zu spät ist.”
    “Gott steh mir bei”, flüsterte Sam.
    “Das wird er tun. Jetzt geh’ schon!”
    Sam drückte seine Schultern durch und ging auf die Treppe zu, während er Luke sich selbst überließ. Der rief sich ein Taxi und fuhr nach Hause.
    Spät in der Nacht kuschelte sich Jade eng an Raphael, wie er es sonst immer bei ihr tat. Er schlief unruhig. Sie wusste, dass seine Schmerzen dafür die Ursache waren. Der Krebs fraß ihn bei lebendigem Leibe auf. Dem Arzt zufolge hing die Krebserkrankung direkt damit zusammen, dass Raphael Aids im fortgeschrittenen Stadium hatte. Jade wusste nicht genau, was das hieß. Aber er würde sterben, und es war ihm gleichgültig. Sie war darüber erschüttert, dass Raphael von seinem Zustand schon seit über einem Jahr wusste, ihr aber nichts davon gesagt hatte. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie San Francisco verließen, hatte er kostenlos Medikamente von einer gemeinnützigen Klinik bekommen. Jade dachte immer wieder darüber nach, was es für ihn bedeutet haben musste, als sie ihm erklärte, dass sie aus San Francisco wegziehen würden. Ob er wohl Angst hatte? Hatte er gewusst, dass er schon am Anfang des Endes stand? Wenn er es ihr nur damals schon erzählt hätte! Sie schluckte schwer. Sie musste akzeptieren, dass es keinen Unterschied gemacht hätte.
    Jade drückte sich noch ein wenig näher an seinen Körper. Sie musste sein regelmäßiges Atmen spüren, um sicher sein zu können, dass er noch existierte. Morgen würde er ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er sollte auf eine Station, die ausschließlich Patienten mit Aids vorbehalten war. Allein diese

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