Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
vom Arbeitszimmer auf den Balkon seines Hauses in einem Vorort von Moskau. In diesem Teil der Welt war es tiefe Nacht, aber er schaltete die Außenbeleuchtung nicht an. Stattdessen lehnte er sich an die Mauer und öffnete seinen Geist zum dunklen Himmel des Medialnet.
Es gab nichts Vergleichbares – eine unendliche, tiefe Schwärze, übersät mit reinen, weißen Sternen, Abbilder des Bewusstseins eines jeden Medialen, ausgenommen der Abtrünnigen. Und der Vergessenen natürlich. Aber diese paar wenigen taten dem Medialnet keinen Abbruch. Es war das größte geistige Gebilde der Welt, das umfangreichste Archiv. Auf seinen Verbindungswegen wurden in jeder Sekunde mehr Daten übertragen als auf den schnellsten Computern der Welt.
Doch heute wollte Kaleb nicht nach Informationen graben – außer nach jener, die er Tag und Nacht, im Wachen und im Schlafen suchte. Diese Suche war ein ständiges Summen in seinem Hinterkopf, doch nun konzentrierte er sich bewusst darauf, in den dunklen Kern des Medialnet zu gelangen, zu den geistigen Kammern des Rates.
Er war der Erste, die Nächsten waren Shoshanna Scott und Nikita Duncan. Ming LeBon und Anthony Kyriakus trafen gleichzeitig ein, kamen aber aus unterschiedlichen Richtungen. Kurz danach tauchte auch Henry Scott auf, Tatiana Rika-Smythe war die Letzte. Die Tür zur Kammer schlug zu, und sieben Bewusstseinssterne leuchteten auf.
Nikita eröffnete die Diskussion. „Da ich dem Brennpunkt am nächsten war, habe ich das Verfahren für den Notfall eingeleitet. Es lief alles nach Plan – doch wir haben schließlich immer gewusst, dass ein weltweiter Stromausfall fehlschlagen könnte. Aleines Nachricht wurde überall hin verbreitet.“
Sobald Nikita schwieg, meldete sich Tatiana zu Wort. „Damit hat sie das Implantationsprogramm vernichtet.“
„Ist das nicht zu fatalistisch gedacht?“, fragte Shoshanna. „Wir haben schließlich immer noch genügend Material – gesichert in Netzwerken, zu denen sie keinen Zugang hatte.“
„Tatiana meinte nicht die technischen Aspekte.“ Das war Anthonys beherrschte geistige Stimme. Er war das jüngste Ratsmitglied, stand aber schon seit Jahrzehnten dem einflussreichen NightStar-Clan vor und war so mächtig, dass er bereits vor seinem Aufstieg in den Rat diesem ungestraft hatte Widerstand leisten können. Deshalb hörten alle zu, wenn er sprach. Sogar Shoshanna.
Sehr interessant.
„Es geht um die politische Seite“, fuhr Anthony fort. „Durch die Verbindung von Programm 1 mit Omega hat Aleine Verwirrung gestiftet, unsere Verbündeten sind jetzt nicht mehr sicher, ob sie wirklich alles von uns erfahren oder nicht. Das hat einen Keil zwischen uns und unsere mächtigsten Unterstützer getrieben.“
„Ich bin nicht dieser Meinung“, erwiderte Shoshanna. „Wir haben es vielleicht nicht deutlich ausgesprochen, aber sie müssten doch wissen, dass wir ihnen unter Programm 1 eine bevorzugte Behandlung zukommen lassen würden.“
„Wohl wahr“, stimmte Anthony zu. „Aber was nützt es, Macht über die Massen zu haben, wenn man keine über die eigene Biologie hat? Nach Aleines Darstellung sieht es so aus, als würden wir unsere Verbündeten zum Narren halten, ihnen Überlegenheit versprechen, während wir sie in Wirklichkeit neutralisieren wollen.“
Jetzt griff Kaleb ein. „Anthony hat ganz recht. Und was das zum Narren gehalten werden angeht – ich würde gerne wissen, warum nichts über Omega in den Akten stand, die ich bei meiner Ernennung bekommen habe.“ Ob Anthony etwas von dem Projekt gewusst hatte? Wahrscheinlich schon. Der NightStar-Clan hatte bekanntermaßen viele V-Mediale in seinen Reihen. Bei ihrem Blick in die Zukunft sahen Hellsichtige viele Dinge. Vielleicht hatten sie auch eine Zukunft ohne Nachkommen gesehen.
„Ein Versehen.“ Ming klang abweisend. „Das Projekt lag jahrzehntelang eingemottet in der Schublade – man hat Aleine nie um Durchsicht gebeten.“
„Noch weniger hatte sie den Auftrag, es neu aufzulegen“, ergänzte Nikita. „Tatsächlich hatte sie nur einmal mit Omega Kontakt, innerhalb eines allgemeinen Forschungsvorhabens, als sie bei uns anfing.“
„Sie hat aber etwas anderes gesagt“, stellte Anthony fest.
Ming war derjenige, der antwortete. „Sie hat gelogen. Ashaya weiß nur zu gut, dass Programm 1 im Medialnet auf Unterstützung gestoßen ist. Wenn sie ihre Sendung nur darauf aufgebaut hätte, wäre sie das Risiko eingegangen, von einer ganzen Reihe von Leuten ignoriert zu
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