Gefangener der Sinne - Singh, N: Gefangener der Sinne
wahrscheinlich ein Virus hätte generieren können. Diese Daten existieren nicht mehr. Vor meiner Flucht habe ich die Akten zerstört. Das Projekt ist gestorben.“ Ashaya legte in diese gefährliche Lüge alle Überzeugungskraft, die sie aufbringen konnte. „Ich fordere Sie nicht auf, mir blind zu glauben. Ich bitte Sie nicht einmal darum, in mir etwas anderes zu sehen als eine Verräterin ihres eigenen Volkes. Aber bitte denken Sie über alles nach … und stellen Sie dem Rat ein paar Fragen.“
Ashaya trat vom Mikrofon zurück in die sanfte Dunkelheit hinter den Kameras und in die gefährliche Sicherheit des dort stehenden Leoparden – obwohl sie das höchstens in einem sehr versteckten Teil ihres Selbst hätte zugeben können. Ihre Knochen fühlten sich seltsam hohl an, zerbrechlich. Vielleicht würden sie im nächsten Augenblick wie Glas zersplittern.
Plötzlich legte sich ein Arm um ihre Schultern, führte sie zur Tür, trug sie fast die Treppe hoch auf einen kleinen Balkon, der gerade zwei Leuten genügend Platz bot. Das helle Tageslicht stach wie scharfe Messer in Ashayas Augen.
„Das war ja eine ziemliche Überraschung.“ Dorian drückte ihren Kopf an seine Brust und rieb ihr mit einer Hand fest über den Rücken.
Sie hätte sich entziehen sollen, aber sie tat es nicht. Kannte sich, wusste um ihre Schwäche, dass sie in diesem Augenblick nicht ohne Hilfe stehen konnte. Und es gefiel ihr, Dorians Wärme zu spüren. „Es war notwendig.“ Für ihr Volk, für ihren Sohn … und trotz allem auch für Amara.
Dorian holte sein Handy heraus. „Kein Empfang. Sie müssen irgendetwas mit den Sendemasten gemacht haben.“
„Tut mir leid – ich wusste, sie würden heftig reagieren, habe aber angenommen, sie wären langsamer.“ Sie löste sich von ihm und lehnte sich an das Geländer, schloss die Hände um das kühle Eisen. Hinter ihm sah sie nur eine Wand von dichten, grünen Blättern. Links von ihr war die Tür zum Untergeschoss, sie fühlte sich noch nicht stark genug, um wieder hinunterzugehen – schon beim ersten Mal hatte sie ihre ganze Willensstärke dafür gebraucht. „Sie haben den Strom abgeschaltet?“
Er nickte.
„Und die Krankenhäuser?“, sagte sie.
„Haben Generatoren“, erwiderte er. „Ich bin sicher, dass die meisten Strom- und Kommunikationsleitungen in ein paar Minuten sowieso wieder funktionieren werden – die medialen Unternehmen würden sonst zu viele Einbußen haben, und ohne deren Unterstützung kippt der Rat.“
„Meinen Sie, meine Sendung hat genügend Leute erreicht?“
Er nickte. „Satelliten für ein Backup standen bereit.“
„Ach!“
„Wir sind gerne auf alles vorbereitet.“ Er strich ihr leicht mit der Hand über die Wange.
Sie bewegte sich keinen Millimeter. Obwohl sie hart trainiert hatte, um genauso gefühllos wie ihre Brüder und Schwestern zu erscheinen, war sie nicht unempfindlich gegen Berührungen. Und hier würde sie niemand dafür bestrafen, dass sie Kraft aus einem einfachen menschlichen Kontakt zog. Aber sie hatte keine Ahnung, welche Regeln bei den Gestaltwandlern in Bezug auf Kontakt galten. Berührungen fielen ihnen leicht, das hatte sie bereits bemerkt … aber nur im Rudel.
Und doch spürte sie jetzt Dorians Hände auf ihrem Körper, als würden seine heißen Finger bei jeder Berührung einen Abdruck hinterlassen.
„Sascha und Faith haben erzählt, dass Mediale auf Genkreuzungen stehen“, sagte Dorian und seine Finger glitten zu ihrem Kinn.
Ashaya sagte nichts und wartete.
„Ich weiß jetzt, warum.“ Er lehnte sich ihr gegenüber an das Geländer und kreuzte die Arme vor der Brust. „Also, was wird die nunmehr berüchtigte Ashaya Aleine jetzt anfangen?“
Sie hätte sich gerne bewegt, aber es gab nicht genügend Platz dafür. Jeder Schritt hätte sie Dorian näher gebracht, und sie hätten sich wieder berührt. Sie spürte die Berührung seiner Hände immer noch – eigentlich war das unmöglich, aber die Empfindung war real. „Damit ist der erste Teil des Plans abgeschlossen.“ Ein Witz. Es gab keinen anderen Plan, als Keenan und sich selbst aus der Rund-um-die-Uhr-Überwachung des Rates zu befreien, weiter hatte sie nicht gedacht.
Nur ein einziger Ausrutscher, und sie hätte ihren Sohn nie wieder gesehen. Paradoxerweise hatte der Rat Keenan unwissentlich vor einer anderen Gefahr bewahrt, indem er ihn als Geisel genommen hatte. Doch dieser Schutz hatte seinen Preis gefordert. Sie hatten ihren kleinen Sohn wie eine Ratte im
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