Gefeuert
gerade auf Kur.
»Der Arzt hat gesagt, dass manche Krebskranke hohe Kredite aufnehmen und zu sehr für die Zukunft planen …«
Ich bin alarmiert. Ich will, dass es meinem Bruder gut geht, dass er jetzt gesund bleibt. Es kann doch nicht sein, dass er sich von diesem Kurarzt eine kürzere Lebenserwartung einreden und sich frustrieren lässt. Und das jetzt, wo er alles so tapfer durchgestanden hat!
»Was soll das denn?«, unterbreche ich deswegen etwas kritisch.
»Er meint, dass man nicht so weit vorausdenken soll, sondern lieber das Leben im Moment genießen.«
»Na ja, das gilt doch für jeden. Für mich auch.«
»Ja, aber es ist schon so, dass die Lebenserwartung nach einer Krebserkrankung kürzer ist.«
»Ich kann auch morgen vom Auto überfahren werden«, werfe ich ein.
»Klar, das sagt er auch«, verteidigt mein Bruder den Arzt, der ihn offenbar mit seinem Spruch beeindruckt hat. »Aber trotzdem ist das Risiko bei Krebskranken höher. Er hat recht, was soll man denn immer an das Rentenalter denken.«
»Ja, stimmt«, lenke ich ein. Dann erzähle ich ihm von meinem Vorstellungsgespräch. »Wie würdest du denn in meinem Fall bei einer Zusage entscheiden? Die einigermaßen gut bezahlte Festanstellung nehmen oder dich selbstständig machen?«, frage ich ihn.
»Das kommt darauf an, was du machen willst«, spielt er den Ball wieder an mich zurück.
»Ja, wollen – selbstständig sein.«
»Wenn du weißt, dass du davon leben kannst.«
»Das weiß ich eben nicht!«, gebe ich zu und wechsle das Thema. Als hätte ich es nicht vorher gewusst: Ich kann fragen, wen ich will – ich bin danach so schlau wie zuvor. Es scheint kein Argument zu geben, auf das ich nicht schon selbst gekommen wäre. Wenn ich nach dem Motto dieses Kurarztes leben wollte, würde ich mich natürlich selbstständig machen. Aber gilt dasMotto auch, wenn man Verantwortung für eine Familie hat? Weil ich nicht weiterweiß, schiebe ich die Entscheidung auf das Unternehmen. Das scheint mir gerade am einfachsten. »Vielleicht sagen sie mir ja ab«, denke ich mir. »Und wenn sie dir zusagen?«, piekst mich eine Stimme, die keine Ruhe geben will.
Wenn sie mir zusagen, dann mache ich es, glaube ich.
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Das Zuflussprinzip
Die Tage danach bin ich hin- und hergerissen. Will ich den Job oder nicht? Habe ich ein gutes Gefühl oder nicht? Melden sie sich oder nicht? Sie sagten: Nächste Woche werden wir uns entscheiden. Da war für mich klar: Der Montag darauf wird mein Schicksalstag. Ich nehme mir vor, zuzusagen und dennoch den Gründungszuschuss zu beantragen, sobald die Bestätigung vom Finanzamt da ist. Ich will auf Nummer sicher gehen. Wer weiß – am Ende kommt trotz Zusage kurzfristig etwas dazwischen.
Doch am Montag meldet sich niemand. Das ist ernüchternd. Damit habe ich nicht wirklich gerechnet. Warum will mich auf einmal keiner? Ich komme mir vor wie ein abgelehntes Mauerblümchen auf einem glänzenden Bewerberball. Die vergangenen 15 Jahre lief alles so gut. Und auf einmal will mich keiner mehr?
Der Tag zieht sich hin und je länger sie sich nicht melden, desto – ja, was eigentlich? – ruhiger werde ich, seltsamerweise. »Okay«, sage ich mir. »Jetzt ist es klar. Du machst dich selbstständig. Schluss mit dem ewigen Bewerben.« Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt jedoch bestehen: Wer weiß, vielleicht melden sie sich auch dieses Mal später, als ich es erwarte? So wie es bei der Einladung zum Vorstellungsgespräch auch der Fall war.
Im Grunde bin ich mit mir unzufrieden, dass ich mich so zum Spielball der Entscheidungen anderer mache. Ich muss doch selbst wissen, was ich will. Diesen Job, einen anderen oder selbstständig arbeiten? Was sind meine Beweggründe? Ich sehe nicht mehr klar, dieser ungewisse Zustand dauert zu lange, inzwischen habe ich jedes Für und Wider, alle Ängste und Wünsche so oft in Gedanken hin- und hergetragen, dass ein Durcheinander entstanden ist, das ich nicht mehr auseinanderbekomme. Was will
ich
eigentlich?
Um mich abzulenken, gehe ich joggen. Johannes kommt mit. Das Rennen tut gut, auch wenn ich kein bisschen in meinen Überlegungen weiterkomme. Auf dem Rückweg laufen wir an einer auffallend attraktiven jungen Frau vorbei, die mit ihren für dieses Wetter zu hohen Schuhen bei jedem Schritt nach links und rechts in den Schnee kippt. Als wir vor der Haustüre stehen bleiben und nach dem Schlüssel kramen, spricht sie uns an. Ihre dunkelblonden Haare fallen in Locken über ihren Mantel herab,
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