Gefrorene Seelen
sie etwas noch Merkwürdigeres: Sie fuhr ohne anzuhalten durch die Straßen, in denen Kollegen und Freunde von ihr wohnten, um nachzusehen, ob in deren Wohnungen Licht brannte oder ob deren Autos in der Einfahrt standen. Sie wusste, dass das neurotisch war, und doch gab es ihr ein versöhnliches Gefühl von Frieden.
Sie bog links in die Trout Lake Road ab und fuhr bis zur Abzweigung zum Highway 63. Im Winter konnte man durch die kahlen Bäume bis hinunter zu den Häusern an der Madonna Road sehen. Sie schaute hinab und sah in Cardinals Haus Licht brennen. Am rückwärtigen Fenster erkannte sie sogar eine Schattengestalt. Vielleicht machte er gerade den Abwasch oder bereitete sich ein spätes Abendessen zu.
An der Chinook Tavern wendete sie und fuhr am College vorbei zurück in die Stadt, die hell erleuchtet unter ihr lag. Nur hin und wieder begegnete sie anderen Autos. Der Fall Pine-Curry kam ihr wieder in den Sinn, doch sie achtete darauf, ihrem Denken keine bestimmte Richtung zu geben. Sie wollte nur ein wenig herumfahren und ihren Gedanken Zeit lassen, sich zu setzen. Einige Minuten später fuhr sie an einem hübschen, zweigeschossigen Wohnhaus mit Stuckfassade vorbei, das sich in einem zwar nicht gerade exklusiven, aber ruhigen Viertel im Schatten des St. Francis Hospital befand. Dysons Auto stand in der Zufahrt.
Delorme hielt am Straßenrand und überlegte, ob sie hineingehen sollte oder nicht.
Ein kleines Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt, kam die Straße hinauf und näherte sich dem Haus. Neben ihr ging ein Junge in etwa dem gleichen Alter. Sie hatte ein paar Bücher an die Brust gedrückt, wie es Mädchen tun, und ging mit gesenktem Kopf den Gehweg entlang. Der Junge musste etwas Witziges gesagt haben,denn plötzlich sah sie hoch, lachte und zeigte eine Zahnspange. Dann erschien ihre Mutter, eine dürre, gespenstisch anmutende Gestalt, im Nebeneingang und rief die Tochter mit einer Stimme, die keine Spur von Liebe erkennen ließ.
Das Bild verfolgte Delorme bis zur Edgewater Road. Aber irgendwo zwischen Rayne Street und der Umgehungsstraße hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt. Sie bog in die Zufahrt eines zweigeschossigen Hauses im Stil eines Schweizer Chalets und betätigte die Klingel. Sie hatte Zeit, sich zu überlegen, was sie sagen wollte, vergaß aber alles, als die Tür von Polizeichef R. J. Kendall persönlich geöffnet wurde. »Wer hätte das gedacht«, war alles, was er sagte.
Sie folgte ihm ins Kellergeschoss in denselben klubartigen Raum, in dem alles begonnen hatte. Bei dem Möbel, das sie für einen Billardtisch gehalten hatte, war die Abdeckung entfernt worden. Zinnsoldaten in roten und blauen Uniformen standen sich in geordneten Schlachtreihen am Ufer eines Pappmachéflusses gegenüber. Delorme hatte ihren Chef bei seinem Hobby gestört, das darin bestand, berühmte Schlachten mit fanatischer Detailgenauigkeit nachzustellen. Offenbar wollte er sich durch ihren unangemeldeten Besuch nicht stören lassen.
»Die Schlacht in der Ebene von Abraham?«, fragte Delorme, um bei ihrem Chef gut Wetter zu machen.
»Kommen Sie gleich zur Sache, Detective. General Montcalm können Sie sowieso nicht helfen.«
»Ich habe die Akten nach etwas Brauchbarem in Sachen Cardinal durchforstet. Ich bin seine alten Fälle, seine Notizen und sonstigen Unterlagen durchgegangen.«
»Ich vermute, dass Sie in diesen Akten einen sensationellen Fund gemacht haben, sonst würden Sie es wohl nicht gewagt haben, wider alle protokollarischen Regeln, von purer Höflichkeit ganz zu schweigen, unangemeldet bei mir zu Hause zu erscheinen.«
»Nein, Sir. Die Sache ist vielmehr, dass die Akten nichts hergeben.Ich drehe mich im Kreis, und das behindert nur die Ermittlung im Fall Pine-Curry.«
»Sehen Sie mal.« Der Chef streckte ihr behutsam eine Hand entgegen, Handteller nach oben. Darin lag das Miniaturmodell einer Kanone. »Maßstabsgetreu. Es sind insgesamt zwölf, und dafür muss ich Teile zusammenfügen, die mit bloßem Auge kaum zu sehen sind.«
»Unglaublich.« Delorme gab sich beeindruckt, merkte aber selbst, dass es nicht reichte.
»Die Akten sind schon wichtig. Bei Gericht erwartet man ein Verhaltensmuster.«
»Sir, das würde eine Ewigkeit dauern, und dann wären es doch bloß alte Sachen, für die es keine Beweise gibt.«
»Sie haben den Kaufvertrag für die Eigentumswohnung in Florida. Sie haben den Beleg über den Kauf der Segeljacht.«
»Hat Dyson Sie schon unterrichtet?«
»Ja. Ich habe ihn
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