Gefrorene Seelen
Augen ab. Als Stan sah, was Howie die ganze Zeit betrachtet hatte, fielen ihm die Colaflaschen auf seine mit Stahlkappen versehenen Sicherheitsschuhe, platzten und ergossen eine kleine braune Fontäne über den Schnee.
35
S ie können schlecht behaupten, dass wir es mit demselben Killer zu tun haben.« Dyson spreizte seine Spatelfinger fächerartig und zählte seine Gründe auf. »Erstens, das Opfer ist zirka dreißig Jahre alt; die anderen waren dagegen Teenager oder noch jünger. Zweitens, die Vorgehensweise ist ganz anders. Die anderen wurden erschlagen oder erstickt. Drittens, die Leiche wurde an einem Ort hinterlassen, wo sie leicht gefunden werden konnte.«
»Gar nicht so leicht. Wenn der Wartungstrupp nicht zufällig an diesem Abschnitt gearbeitet hätte, wären Monate vergangen, bis man die Leiche gefunden hätte. Wenn der Schneepflug das nächste Mal die 63 langgefahren wäre, hätte er die Leiche ganz zugedeckt.«
»Arthur Wood war ein notorischer Krimineller. Also muss er Feinde gehabt haben.«
»Woody hatte überhaupt keine Feinde. Eine nettere Type als ihn konnte man sich gar nicht vorstellen – vorausgesetzt, man behielt das Silberbesteck im Auge.«
»Dann eben alte Rechnungen aus der Knastzeit. Sprechen Sie mit ehemaligen Mithäftlingen, sprechen Sie mit den Wärtern in seinem Gefängnistrakt. Wir wissen nicht alles über unsere Klientel.«
»Woody war ein Profi. Nur ist er wohl diesmal ins falsche Haus eingebrochen. Wenn wir das Haus finden, haben wir auch den Mörder.« Er übergibt McLeod den Fall, dachte Cardinal. Er spürte förmlich, wie sich dieser Entschluss in Dysons kahlem Schädel formte.
Der Brieföffner grub eine Rinne durch die Schale mit den Briefklammern. »Schauen Sie«, sagte Dyson, »Sie haben doch weiß Gott schon genug zu tun.«
»Ja, aber wenn es derselbe Täter ist, dann …«
»Lassen Sie mich meinen Gedanken zu Ende bringen.« Die Stimme war sanft und nachdenklich. »Sie haben mehr als genug zu tun, wie ich schon sagte. Aber warum machen wir es nicht folgendermaßen: Sie übernehmen zunächst einmal den Fall Woody. Und es bleibt auch Ihr Fall, solange nichts auftaucht, was definitiv gegen eine Verbindung mit unserem hiesigen Psychopathen spricht. Wenn das passieren sollte, ist es sofort McLeods Fall. Einverstanden?«
»Einverstanden. Danke, Don«, sagte Cardinal und wurde leicht rot im Gesicht. Er nannte den Detective Sergeant sonst nie beim Vornamen, aus freudiger Erregung hatte er sich dazu hinreißen lassen. Bevor er die Tür aufmachte, wandte er sich noch einmal um und sagte: »Das Fernsehen aus Sudbury hat von der Sache mit Margaret Fogle erfahren.«
»Ich weiß. Das war mein Fehler. Entschuldigung.«
Dyson entschuldigte sich! Den Tag musste man sich im Kalender rot anstreichen. »War nicht gerade hilfreich. Ich weiß nicht einmal, warum es überhaupt aufs Tapet kam.«
»Grace Legault ist nicht Roger Gwynn. Diese Frau wird nicht bei Sudburys geschätztem Kanal 4 verschimmeln. Die wird in Toronto Karriere machen, wenn ich mich nicht sehr täusche. Die weiß, was sie tut. Irgendwie hat sie Material über Vermisste in die Finger gekriegt, und dann – aber das ist jetzt unerheblich – hat sie mich kalt erwischt. Eigentlich hätte ich Sie darüber informieren sollen. Mein Fehler. Damit ist die Sache erledigt, oder?«
Als er aus Dysons Büro kam, lief ihm Lise Delorme über den Weg. »Ich habe überall nach Ihnen gesucht«, sagte sie. »Woodys Frau wartet draußen. Sie möchte ihn als vermisst melden. Wir müssen sie zur Identifizierung der Leiche mit ins Leichenschauhaus nehmen.«
»Damit würden wir uns um eine Chance bringen. Ich möchte es ihr nicht gleich sagen.«
Delorme sah bestürzt aus. »Sie müssen ihr das sagen. Ihr Mann ist tot, das können Sie ihr doch nicht verschweigen.«
»Wenn wir es ihr gleich sagen, haben wir keine Chance, noch Informationen von ihr zu bekommen. Sie wird zu aufgewühlt sein. Wir sollten es ihr nicht gleich sagen.«
*
Martha Wood hing ihren Mantel und den kleinen Parka ihres Sohn an der Garderobe im Flur auf. Sie trug ein T-Shirt und Jeans – groß und schlank wie sie war, wirkte das wie etwas Raffiniertes aus
Vogue
. Sie saß im selben Vernehmungszimmer, in dem man ihren Mann schon mehrmals in den vergangenen Jahren ausgefragt hatte. Ihr kleiner Sohn, der die gleichen dunklen Augen und Haare wie seine Mutter hatte, saß auf dem Stuhl neben ihr und drückte auf einem Plastikbären herum, der hin und wieder ein nasales
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