Gefrorene Seelen
Ermittlungen zu Ende waren. Und wegen Dyson verspürte er Trauer, ja Leid. McLeod hatte den ganzen Morgen Hohn und Spott über ihren gefallenen Chef ausgegossen. »Den sind wir los«, bellte er durchs Revier, damit es jeder hören konnte. »Reichte es nicht, dass er sich als arrogantes Arschloch aufführte? Nein, er musste auch noch korrupt sein. Manche Leute kriegen eben nie genug.« Cardinal fühlte keine moralische Überlegenheit. Schließlich hätte es genauso gut auch ihm passieren können, in Handschellen ins Bezirksgefängnis gebracht zu werden.
Über dem Altar hing ein imposantes, goldgerahmtes Medaillon der in den Himmel aufgenommenen Muttergottes. Als Junge hatte Cardinal oft zu ihr gebetet, damit sie ihm helfe, ein besserer Schüler, ein besserer Hockeyspieler, ein besserer Mensch zu werden. Doch jetzt betete er nicht. Allein hier in dem dufterfüllten Kirchenschiff zu sitzen genügte ihm, um dieses Gefühl der Unversehrtheit heraufzubeschwören, das er als Kind und ganz junger Mann noch gekannt hatte. Er wusste noch genau die Stunde, in der er dieses Gefühl verloren hatte. Dass Delorme nicht mehr gegen ihn ermittelte, hieß nicht, dass ihm sein Gewissen die Absolution erteilt hätte.
»Entschuldigung.«
Ein korpulenter Mann drängte sich an Cardinal vorbei in die Bank – das war schon ärgerlich, denn an leeren Bänken herrschte wahrlich kein Mangel. Aber die Leute hatten ihre Stammplätze, und Cardinal war schließlich auch bloß ein verirrtes Schaf, kein regelmäßiger Kirchgänger.
»Nette kleine Kirche habt ihr hier.«
Der Mann war fast quadratisch. Er hockte neben Cardinal wie ein Fleischkubus ohne Hals, Taille oder Hüften und zeigte auf das Medaillon über dem Altar: »Eine tolle Medaille. Ich mag Kirchen, Sie auch?« Damit wandte er sich zu Cardinal um und lächelte, wenn man die freudlose Zurschaustellung von Zähnen lächeln nennen will. Zwei vergoldete Schneidezähne blitzten auf und verschwanden wieder. Das Gesicht des Mannes war rund und flach wie das eines Eskimos und von vier symmetrischen Narben gezeichnet, die waagerecht über Stirn und Kinn sowie senkrecht über jede Wange verliefen. Seine Nase sah aus wie eine implodierte Paprikaschote. Der Mann musste eine Neunzig-Grad-Drehung vollführen, um Cardinal anzublicken, denn sein rechtes Auge war von einer schwarzen Lederklappe verdeckt. Irgendein Scherzbold hatte darauf mit Bleistift das Wort »geschlossen« gekritzelt.
War es ein Mann, den Cardinal einmal hinter Gitter gebracht hatte? Sicherlich hätte er sich an eine solche Gestalt erinnert.
»Ziemlich warm für Februar.« Der Mann zog eine schwarze Kappe vom Schädel und enthüllte einen völlig kahlen Kopf. Dann zog er mit überraschendem Zartgefühl erst den einen, dann den anderen Lederhandschuh aus und legte die Hände auf die Knie. Auf die Knöchel der einen Hand hatte er sich »Leck«, auf die der anderen das Wort »mich« tätowieren lassen.
»Kiki«, sagte Cardinal.
Die vergoldeten Schneidezähne blitzten wieder auf. »Ich dachte schon, Sie würden sich gar nicht mehr an mich erinnern. Lange nicht mehr gesehen, was?«
»Leider habe ich Sie nicht in Kingston besucht, aber Sie wissen ja, wie das ist. Man ist immer so beschäftigt …«
»Zehn Jahre lang. Die war ich wirklich beschäftigt.«
»Das sehe ich. Sie haben sich ein bisschen verschönern lassen. Der Spruch auf der Augenklappe gefällt mir besonders.«
»Ja, ich bin in einer Superform. Ich stemme jetzt dreihundert Pfund. Und Sie?«
»Keine Ahnung. Beim letzten Mal waren es um die hundertsiebzig.« Es war näher an hundertfünfzig, aber schließlich redete er mit einem Vandalen. Unbedingte Redlichkeit war hier nicht angezeigt.
»Macht Sie das nicht ein bisschen nervös?«
»Warum? Es sei denn, Sie wollen mir drohen. Ich hoffe doch nicht – zumal Sie nur auf Bewährung entlassen wurden.«
Die vergoldeten Schneidezähne glänzten feucht. Kiki Baldassaro, in seinen Kreisen besser als Kiki B. oder Kiki Babe bekannt. Sein Vater war ein nicht ganz unbedeutender Mafioso, der die Bauindustrie Torontos jahrzehntelang vor Arbeitskämpfen schützte. Das tat er unter anderem dadurch, dass er seinen quadratischen Sohn als »Schweißer« auf die Lohnliste einer Firma setzte. Und Schweißer wurden gut bezahlt, vor allem wenn man bedachte, dass Kiki B. gar nicht auf der Baustelle auftauchte. Gott bewahre.
Trotz des garantierten Einkommens war Kiki B. kein Zeitgenosse,der zu Hause müßig herumsaß. Er arbeitete gern mit
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