Gefrorene Seelen
Sie sah zu, wie er den Deckel des Batteriefachs aufzumachen versuchte, dann streckte sie fordernd eine makellose Hand aus. Er gab ihr den Rekorder, worauf sie den Deckel des Batteriefachs gekonnt aufmachte, die verbrauchten Batterien herausnahm und neue einsetzte. Sie drückte wieder eine Taste, unddie Stimme der Gutachterin fuhr mit normaler Geschwindigkeit fort.
»Vielen Dank. Die Verteidiger von Recht und Ordnung stehen tief in Ihrer Schuld.«
Nachdem Mandy die Tür hinter sich geschlossen hatte, deutete Setevic mit dem Kopf in diese Richtung und fragte Delorme stirnrunzelnd: »Was meinen Sie, wie bin ich bei ihr angeschrieben?«
»Sie kann Sie nicht ausstehen.«
»Habe ich mir gedacht. Nennen Sie es meinen slawischen Charme.« Er wechselte die Kassette und drückte die Abspieltaste. »Haben Sie eine Ahnung, was drauf sein könnte?«
»Eigentlich nicht. Wahrscheinlich aber so was wie ›Aerosmith Unplugged‹.«
Das Band ging los.
Mehrmaliges Klicken. Jemand pustet zum Test ins Mikrophon, dann klopft er darauf.
Delorme und Cardinal sahen sich an, dann wandten sie den Blick rasch wieder voneinander ab. Nur die Ruhe bewahren, sagte sich Cardinal. Es konnte alles Mögliche sein, ein beliebiger Sprecher, ohne Zusammenhang mit dem Fall. Gleichzeitig merkte er, dass er den Atem anhielt.
Nochmaliges Klicken, Rascheln von Stoff. Dann die Stimme eines Mannes, der in zornigem Tonfall weit weg vom Mikrophon etwas sagt, was nicht zu verstehen ist.
Ein Mädchen, ihre bebende Stimme unglaublich nah: »Ich muss jetzt gehen. Ich habe um acht einen Termin. Die sind stocksauer, wenn ich nicht komme.«
Schwere Schritte. Im Hintergrund spielt jetzt Musik – das Ende eines Rocksongs. Kaum hörbar: »… sonst werde ich echt wütend.«
»Ich kann nicht. Ich möchte jetzt gehen.«
Die Stimme des Mannes, jetzt zu weit für eine Aufnahme: »[unverständlich] … Schnappschüsse.«
»Warum soll ich das tragen? Ich kann nicht richtig atmen.«
»[Rauschen] … umso eher bist du wieder frei.«
»Ich zieh mich nicht aus.«
Schwere Schritte nähern sich dem Mikrophon. Mehrere Schläge, laut wie Pistolenschüsse. Schreie. Dann Schluchzen, dann gedämpftes Weinen.
»Dreckskerl«, sagte Cardinal leise.
Delorme sah angestrengt aus dem Fenster, als ob das Apartmenthaus auf der anderen Seite der Grenville Street von allergrößtem Interesse wäre.
Als Hintergrundmusik sind nun die Rolling Stones zu hören.
Wieder klickt es mehrmals hintereinander, aber weiter entfernt.
»Das könnte die Kamera sein«, bemerkte Delorme, die immer noch am Fenster stand.
»Bitte lassen Sie mich jetzt gehen. Ich verspreche auch, niemandem etwas zu sagen. Machen Sie Ihre Fotos und lassen Sie mich dann gehen. Ich schwöre bei Gott, ich sage nichts.«
»… mich zu wiederholen …«
»Sie hören ja gar nicht zu! Ich habe eine Verabredung. Ich bin mit den anderen aus der Band verabredet. Es ist echt wichtig. Wir haben einen Auftritt in Ottawa, und wenn ich nicht rechtzeitig komme, rufen die anderen die Polizei. Sie kriegen jede Menge Ärger! Ich versuche bloß Ihnen zu helfen!«
[Nicht zu verstehen.]
»Wo? Ich wohne im Chippewa-Reservat. Mein Vater ist Polizist. Er arbeitet bei der OPP. Ich warne Sie. Er rastet aus, wenn er etwas davon erfährt.«
[Nicht zu verstehen.]
»Nein. Ich will das nicht machen. Ich will nicht.«
Schritte kommen näher. Heftiges Geräusch von zerreißendem Stoff. Dann die Stimme des Mädchens, sich überschlagend: »Bitte! Bitte! Bitte! Ich muss vor acht bei der Probe sein. Wenn ich nicht …« Ein Reißen, vielleicht von Klebeband. Ihre Stimme ein gedämpftes Wimmern.
Wieder das Klicken.
Die Musik kommt jetzt von einer bekannten Sängerin.
Erstickte Schluchzer.
Klicken.
Klicken.
Ein Reißgeräusch.
Ein Mann hustet nahe am Mikrophon.
Noch mehr Reißgeräusche.
Neunzig Sekunden Stille.
Ein letztes Klicken, als der Rekorder ausgeschaltet wird.
Der Rest von Seite A war leer. Ebenso die ganze Seite B. Sie hörten sich die ganze halbe Stunde Bandgeräusche an, um ganz sicherzugehen. Cardinal, Delorme und Setevic verharrten in völliger Stille. Es dauerte lange, bis einer von ihnen etwas sagte. Mit einer Stimme, die auch für ihn selbst schrecklich laut klang, fragte Cardinal: »Haben Sie im Archiv jemanden, der uns mehr über das Band sagen kann?«
»Oh, ich glaube kaum«, sagte Setevic, immer noch ganz benommen.
»Wir haben gerade den Mord an einem Mädchen mitgehört, deshalb will ich alles wissen, was man aus
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