Gefrorene Seelen
diesem Band entnehmen kann. Gibt es im Archiv keine Experten für so was?«
»Im Archiv? Da arbeiten Sachverständige für Handschriften und sonstige Schriftproben. Texte auf Papier. Aber …« Setevic hustete, dann räusperte er sich. Er war ein gestandener Mann, der einiges vertrug, so schätzte Cardinal ihn jedenfalls ein. Dennoch machte es ihm immer noch sehr zu schaffen, was alle drei gerade gehört hatten. »Ich gebe Ihnen eine Telefonnummer«, brachte er schließlich hervor. »Da gibt es einen Mann, mit dem die OPP schon öfter zusammengearbeitet hat.«
*
Die neue Zentrale des kanadischen Rundfunks CBC an der Front Street hatte eine skandalöse Summe verschlungen, und Cardinal sah auch gleich, warum. Das helle Atrium, das acht Stockwerkehoch vom einfallenden Tageslicht durchflutet wurde, glich mit seinen vielen Bäumen einem überdachten Park. Unter Cardinals Füßen glänzte Marmor. Dafür wurden also seine Steuergelder verwendet.
Cardinal und Delorme folgten der strahlenden Dame vom Empfang bis zum Aufzug. Schmale, blasse Männer glitten geräuschlos durch die Gänge. Die Dame führte sie an einer Reihe von Studios vorbei bis zum Ende des Gangs und öffnete dort eine dunkelrote Tür. Dann traten alle drei in ein schwach erleuchtetes Aufnahmestudio.
Ein Mann in einem Jackett mit Hahnentrittmuster saß mit Kopfhörer vor einem Regiepult. Er trug eine akkurat gebundene gelbe Fliege. Sein gestärktes weißes Hemd sah aus, als ob es gerade aus der Verpackung käme. Wie aus dem Ei gepellt, dachte Cardinal.
Die Empfangsdame stellte sie mit lauter Stimme vor. »Brian, hier sind Ihre Freunde von der Polizei.«
»Danke. Bitte setzen Sie sich doch. Ich bin gleich für Sie da.« Er hob nicht die Stimme, wie es sonst Leute tun, die Kopfhörer tragen.
Cardinal und Delorme nahmen in Drehstühlen mit hoher Rückenlehne Platz.
»Oh«, seufzte Delorme und strich anerkennend über den Stuhl. »Wir haben den falschen Beruf gewählt.«
Im Studio roch es nach neuem Teppichboden – sogar die Wände waren gepolstert –, alles verbreitete eine Atmosphäre angenehmer Stille.
In den folgenden fünf Minuten beobachteten sie, wie die blassen Hände des Technikers sanft über die Armaturen glitten, hier einen Regler verschoben, dort eine Taste drückten. Lämpchen und Anzeigen blinkten über die ganze Länge des Regiepultes. Das Gesicht des Mannes mit der ernsten, konzentrierten Miene spiegelte sich im Glas darüber und schien wie ein körperloser Geist über dem Pult zu schweben.
Aus dem Lautsprecher hörte man abwechselnd zwei tiefemännliche Stimmen, die ein nicht enden wollendes Gespräch über den Föderalismus führten. Delorme verdrehte die Augen und zeichnete mit dem Zeigefinger imaginäre Kreise, so sehr langweilte sie das Geschwafel der beiden Herren. Als das Interview schließlich doch zu einem Ende kam, nahm der Techniker den Kopfhörer ab und wandte sich ihnen mit ausgestreckter Hand zu. »Brian Fortier«, stellte er sich vor. Er hatte eine Rundfunkstimme, tief und sonor. Seine ausgestreckte Hand hing in der Luft, als gehöre sie nicht zu ihm, und da erst merkte Cardinal, dass Fortier blind war.
Er schüttelte die Hand und stellte Delorme und sich vor.
Fortier zeigte mit dem Daumen auf die Tonbänder. »Ich gehe gerade Archivmaterial für eine Sendung durch. Das waren John Diefenbaker und Norman DePoe. Nicht gerade taufrisch, das Ganze.«
»Das war Diefenbaker? Der hat aus meiner Heimatstadt ein Atomwaffenlager gemacht, als ich ein Kind war.«
»Dann kommen Sie also aus Algonquin Bay.«
»Und Sie«, versetzte Delorme, »Sie sind doch auch aus dem Norden, oder?«
»Nein, nein – aus dem Ottawa Valley.« Er sagte ein paar Sätze auf Französisch, die Cardinal nicht ganz verstand, aber er merkte, dass seine Kollegin sofort entspannter wirkte. Fortier machte einen Scherz, über den Delorme wie ein junges Mädchen lachte. Cardinal hatte sich bis in die zwölfte Klasse mit Französisch abgemüht. Doch in Toronto war Französisch kaum gefragt, und nach seiner Rückkehr nach Algonquin Bay hatte er das meiste wieder vergessen. Ich sollte mal einen Fortgeschrittenenkurs an der Fern-Universität machen, sagte er sich mindestens schon zum vierzigsten Mal. Ich bin wirklich ein fauler Hund.
»Die OPP sagte mir, Sie hätten eine Tonkassette für mich.«
Cardinal nahm die Kassette aus der Tüte. »Der Inhalt darf über diesen Raum hinaus nicht bekannt werden, Mr. Fortier. Können Sie damit leben?«
»›Laufende
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