Gefrorene Seelen

sie denn?«
    »Im vierten. Bildende Kunst. Sie hat nur Einsen«, konnte er sich nicht verkneifen hinzuzufügen.
    »Sie hätten sie besuchen können. Wir hatten genug Zeit.«
    »Kelly ist nicht in Toronto. Sie studiert in den Staaten.« Wie Sie genau wissen, Detective Delorme, trotz Ihrer unschuldigen Art. Ermitteln Sie nur weiter gegen mich, wenn Sie es müssen, aber erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen dabei helfe.
    »Warum studiert sie denn lieber in den Staaten? Ist es wegen Ihrer Frau, die ja von dort stammt?«
    »Kellys Mutter ist Amerikanerin, aber das ist nicht der Grund, weshalb Kelly dorthin gegangen ist. Yale ist die beste Hochschule für Bildende Kunst auf dem ganzen amerikanischen Kontinent.«
    »So eine berühmte Universität. Und ich weiß nicht mal, wo sie liegt.« Es war durchaus möglich, dass Delorme es wirklich nicht wusste. Cardinal war sich nicht sicher.
    »New Haven, Connecticut.«
    »Ich weiß auch nicht, wo New Haven liegt.«
    »An der Atlantikküste, kein schöner Ort.« Machen Sie nur weiter, Delorme, fragen Sie, wie ich mir das leisten kann. Fragen Sie, woher ich das Geld habe.
    Aber Delorme wiegte nur bewundernd den Kopf. »Yale, das ist wirklich toll. Was studiert sie doch gleich?«
    »Bildende Kunst. Kelly wollte immer Malerin werden. Sie ist sehr begabt.«
    »Ein cleveres Mädchen, wie es scheint. Zur Polizei will sie nicht.«
    »Sie ist eben ein cleveres Mädchen.«
    Als sie dann im Schneesturm weiter nordwärts fuhren, war die gespannte Atmosphäre mit Händen zu greifen. Ein Scheibenwischerblatt quietschte unentwegt, so dass Cardinal es am liebsten herausgerissen hätte. Er schaltete das Radio ein und hörte sich nur eine Strophe von Joni Mitchells »Both Sides Now« an, dann schaltete er wieder aus. Als sie sich Gravenhurst näherten, tauchten die ersten Felsen des Präkambrischen Schilds auf beiden Seiten des Highways auf. Sonst hatte Cardinal immer ein Gefühl von Zuhause, wenn er diesen ersten Felsdurchbruch erreichte, doch jetzt fühlte er sich nur bedrückt.
    Am Morgen hatte er aus der Gerichtsmedizin Dyson angerufen, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Ehe er überhaupt etwas sagen konnte, überfiel ihn der Detective Sergeant mit der Ankündigung: »Ich habe eine Überraschung für Sie, Cardinal.«
    »Nämlich?«
    »Margaret Fogle.«
    »Was ist mit ihr?«
    »Ich habe hier in der Hand – sozusagen frisch aus der Presse – ein Fax von der Polizei in Vancouver. Offenbar ist Miss Fogle nicht, wie manche glauben wollten, Opfer eines Mordes in unserer kleinen Stadt geworden. Miss Fogle ist am Leben und hat in Vancouver ein Baby zur Welt gebracht. Mutter und Kind sind wohlauf.« Die Schadenfreude in Dysons Stimme war auch durch das Telefon deutlich zu spüren.
    »Schön«, sagte Cardinal. »Wenn sie lebt, ist das eine gute Nachricht.«
    »Nehmen Sie’s nicht zu schwer, Cardinal. Wir machen alle mal einen Fehler.«
    Cardinal ließ diese Bemerkung unkommentiert durchgehen und berichtete dann so knapp wie möglich von den Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Untersuchung.
    Auf der Höhe von Bracebridge, wo die Ausfahrten nur noch verschwommen im Schneegestöber zu erkennen waren, kam Delormewieder auf die Musik auf dem Band zu sprechen, und während sie verschiedene Hypothesen durchspielten, wurde die Stimmung wieder besser. Cardinal merkte, dass ihm die gute Meinung seiner Kollegin wichtig war. Das musste wohl etwas mit diesen scharf geschnittenen Gesichtszügen und ernsten Augen zu tun haben. Andere Gründe hatte er nicht; sie kannten sich beide kaum.
    Also gut, sagte sich Cardinal und begann im Stillen seine Situation zu analysieren, du hast das deutliche Gefühl, dass deine Kollegin gegen dich ermittelt. Wie gehst du am besten mit dieser unerquicklichen Situation um, ohne in Schimpf und Schande zu enden? Er entschied sich dafür, ihr so weit wie möglich entgegenzukommen. Ohne es allzu offensichtlich zu machen, wollte er ihr jede Gelegenheit zu weiteren Recherchen bieten – ihr den Zugang zu seinem Spind und zu seinem Schreibtisch ermöglichen (wenn sie das nicht schon längst getan hatte). Ja, wenn es sein musste, würde er sie sogar in seinem Haus herumschnüffeln lassen. Yale war der Punkt, der ihm am gefährlichsten werden konnte, und den kannte sie bereits. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch mehr fand, war, so wie die Dinge lagen, gering.
    Hinter Huntsville hatte Cardinal das Gefühl, wirklich wieder auf heimischem Territorium zu sein. Sicher, mit den Leuten in Toronto zu