Gefrorene Seelen
kann unter solchen Umständen sehr viel mehr bieten.«
»Nanu, plötzlich so verständnisvoll? Wie viele Tatorte hat dieser so genannte Experte denn ausgewertet, frage ich mich.«
»Der Text stammt von Joanna Prokop. Sie hat damals Laurence Knapschaefers Profil so genau erfasst, dass sie sogar die Marke des Autos angeben konnte, das er dann tatsächlich fuhr. Sie hat mehr Scharfsinn als die ganze Polizeidirektion in Ottawa zusammen.«
Dyson blätterte bis zur letzten Seite und las zornfunkelnd die Zusammenfassung vor.
»Die Natur der beschriebenen Fundorte weist den Täter als Einzelgänger aus. Dass er den Bergwerksschacht kannte, zeigt, dass es sich um einen Einheimischen handeln dürfte
… Ah, jetzt kommt’s:
Der Mörder zeigt sowohl rationales als auch desorganisiertes Verhalten. Er hat keine Scheu, die von ihm ausgesuchten Opfer direkt anzusprechen. Er verfügt über eine zumindest oberflächliche soziale Kompetenz, so dass er einen Jugendlichen umgarnen kann. Das leerstehende Haus, der Bergwerksschacht, die Tonbandaufnahme sprechen für planvolles Vorgehen. Wer seine Tat so genau plant, hat vermutlich einen festen Arbeitsplatz. Möglicherweise ist der Täter ein Sauberkeitsfanatiker oder pedantischer Bürokrat. Vielleicht geht er einer Arbeit nach, die viel Ordnungsliebe erfordert.
Todd Curry sah mir nicht so reinlich aus, aber zweifellos haben wir andere Maßstäbe als die Mounties, was Sauberkeit im Haushalt betrifft.«
»Andererseits«,
fuhr Dyson fort,
»deuten die Zeichen von Raserei im Mordfall Curry auf eine impulsive Persönlichkeit … Bei dem Mörder könnte es sich um eine Person handeln, die immer häufiger nicht zur Arbeit erscheint und allmählich die Kontrolle über ihr Leben verliert.
Was sollen wir mit solchen Hinweisen anfangen, frage ich mich. Nach diesem Täterprofil müssten wir nach Dr. Jekyll und Mr. Hyde suchen. Was kein Problem wäre, wenn der Typ als Hyde wütete. Aber wie soll man ihn erkennen, wenn er Dr. Jekyll ist?«
»Jedenfalls nicht durch Herumsitzen«, befand Cardinal, stand auf und ging.
Delorme wäre ihm gefolgt, wenn Dyson sie nicht zurückgehalten hätte. »Warten Sie einen Augenblick. Kam es mir nur so vor, oder war Ihr Kollege wirklich ein bisschen empfindlich?«
Delorme blieb der Wechsel im Tonfall nicht verborgen. Sie sprachen jetzt nicht mehr über die Mordfälle Pine und Curry. »Ich glaube, er ist bloß sauer, weil Sie ihn nicht informiert haben.«
»Ja, da mögen Sie Recht haben. Und wie kommen Sie mit Ihren Ermittlungen in seinem Fall voran?«
»Gut. Aber nichts Greifbares bis jetzt.«
»Und seine finanzielle Lage?
»Bisher noch nichts. Die Banken halten sich mit Auskünften sehr zurück. Aber ich habe den Eindruck, also ich glaube nicht, dass …«
»Ihr Eindruck nützt mir gar nichts, und dem Chef genauso wenig. Wir haben alle den Eindruck, dass Sergeant John Cardinal ein hervorragender Ermittler ist und ein Mann gerade bis zum Scheitel. Wir brauchen keine weiteren Eindrücke, wir brauchen Fakten, die erklären, warum uns Kyle Corbett dreimal durch die Lappen gehen konnte. Cardinal möchte das gern Corporal Musgrave und dessen Leuten in die Schuhe schieben. Aber wie kann sich ein normaler Kripobeamter ein Haus in der Madonna Road leisten? Und wie kommt er dazu, sein Töchterlein auf eine private Eliteuniversität zu schicken? Haben Sie eine Vorstellung, wie hoch die Studiengebühren in Yale sind?«
»Rund fünfundzwanzigtausend kanadische Dollar. Ich habe mich schon erkundigt.«
»Sind da Unterhalt und Wohnung inbegriffen?«
»Nein, das sind nur die Studiengebühren. Rechnet man die Kosten für Essen, Wohnung, Bücher und sonstigen Bedarf hinzu, kommt man auf ungefähr achtundvierzigtausend kanadische Dollar jährlich.«
»Nicht schlecht.«
17
E in grauer Überlandbus bog dröhnend um die Ecke, wirbelte Schnee hoch und kam vor der Haltestelle zum Stehen.
Die Fahrgäste stiegen nach und nach steifbeinig aus. Manche wurden von wartenden Verwandten umarmt, andere gingen geradewegs auf die Münztelefone zu, wieder andere eilten zum nahen Taxistand. Eine Menschentraube bildete sich um den Bauch des Busses, wo der Fahrer Gepäckstücke wie einen Wurf junger Hunde verteilte. Abgasschwaden zogen um die Beine der Wartenden.
Der Fahrer holte einen Gitarrenkoffer hervor und reichte ihn einem schmächtigen Jugendlichen in einem dünnen Parka, der frierend wartete. Der junge Mann hatte lange Haare, die er sich immer wieder mit der Hand aus dem Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher