Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefrorene Seelen

Gefrorene Seelen

Titel: Gefrorene Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
Vom Netzwerk:
der letzten schlaflosen Nacht hatte er in der Tür ihres Schlafzimmers gestanden und dasschmale Bett betrachtet, in dem sie eine Woche lang geschlafen hatte. Dann hatte er das Taschenbuch aufgehoben, in dem sie geschmökert hatte, nur um etwas zu berühren, was sie in der Hand gehabt hatte.
    Auch jetzt stand er in der Tür, das schnurlose Telefon unters Kinn geklemmt. Das Zimmer war in einem hübschen hellen Gelbton gestrichen und hatte ein großes Fenster mit Blick auf ein Birkenwäldchen, doch eigentlich war es nie Kellys Zimmer gewesen. Cardinal und Catherine waren erst in die Madonna Road gezogen, nachdem Kelly ihr Studium begonnen hatte, das Zimmer benutzte sie nur, wenn sie zu Hause zu Besuch war. Ein Fernsehvater hätte ihr gesagt, er habe ihr Taschenbuch berührt, nur um etwas zu haben, was sie in der Hand gehalten hatte, doch Cardinal hätte so etwas nie über die Lippen gebracht.
    »Da wäre noch etwas, Daddy. Ein paar aus unserer Gruppe planen, nächste Woche nach New York zu fahren. Es ist die letzte Woche der Francis-Bacon-Ausstellung, und das sollte ich mir wirklich ansehen. Nun habe ich aber die Kosten für die Reise nicht eingeplant. Es geht um rund zweihundert Dollar, wenn man Benzin, Essen und dergleichen zusammenrechnet.«
    »Zweihundert US-Dollar?«
    »Hm, ja. Das ist zu viel, oder?«
    »Tja, ich weiß nicht. Wie wichtig ist es denn, Kelly?«
    »Ich würde es nicht machen, wenn du denkst, dass es zu teuer ist. Tut mir leid, ich hätte gar nicht erst davon anfangen sollen.«
    »Nein, nein. Das geht schon in Ordnung. Wenn es wichtig für dich ist.«
    »Ich weiß, dass ich dich ein Vermögen koste. Ich versuche ja auch zu sparen, wo ich nur kann, Daddy. Du würdest gar nicht glauben, was ich alles nicht mitmache.«
    »Ich weiß. Schon gut. Ich überweise dir heute Nachmittag das Geld auf dein Konto.«
    »Bist du auch wirklich einverstanden?«
    »Wirklich. Aber nächstes Jahr muss es anders werden, Kelly.«
    »Oh, nächstes Jahr wird es mit Sicherheit anders. Dann bin ich ja mit meinen Seminaren fertig und habe nur noch meine Abschlussarbeit vor mir: ein oder zwei Bilder für die Gruppenausstellung, je nachdem, was Dale von mir erwartet. Nächstes Jahr kann ich einen Teilzeitjob annehmen. Es tut mir leid, aber alles ist so teuer, Daddy. Manchmal frage ich mich, wie du das alles schaffst. Ich hoffe, du weißt, wie dankbar ich dir bin.«
    »Mach dir darüber keine Gedanken.«
    »Hoffentlich werde ich eines Tages eine Stange Geld mit meiner Malerei verdienen, dann kann ich dir einiges zurückzahlen.«
    »Ich bitte dich, Kelly, denk gar nicht an so was.« Das Telefon war feucht von Cardinals schwitziger Hand, das Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf. Kellys Dankbarkeit hatte seinen Entschluss wieder zunichte gemacht. Tief in seinem Innern war eine Tür ins Schloss gefallen, ein Riegel war vorgeschoben und ein lange nicht mehr benutztes Schild ins Fenster gestellt worden:
Bis auf weiteres geschlossen
.
    »Du klingst ein bisschen angespannt, Daddy. Wächst dir die Arbeit über den Kopf?«
    »Die Presse hat sich auf uns eingeschossen. Ich habe den Eindruck, die geben erst Ruhe, wenn wir die Luftwaffe um Unterstützung bitten. Ich komme bei der Ermittlung nicht so voran, wie ich eigentlich sollte.«
    »Du schaffst das schon.«
    Sie beschlossen das Gespräch mit ein paar Worten über das Wetter: Bei ihr war es sonnig und warm, gemessen in Fahrenheit; bei ihm war es beißend kalt, gemessen in Celsius unter null. Cardinal warf das Telefon aufs Sofa. Er stand bewegungslos mitten im Wohnzimmer wie ein Mann, der gerade eine schreckliche Nachricht vernommen hatte. Von draußen kam ein Geräusch, von dem er erst nach ein paar Augenblicken wusste, was es war. Dann lief er durch die Küche, riss die Hintertür auf und schrie: »Hau ab, du Mistvieh!«
    Er sah noch, wie das dicke Hinterteil des Waschbären unterdem Haus verschwand. Normalerweise hielten Waschbären um diese Jahreszeit Winterschlaf, doch der Fußboden von Cardinals Haus strahlte Wärme ab, genug Wärme, um das Tier glauben zu machen, der Winter sei zu Ende. Bei Cardinals erster Begegnung mit dem Waschbären hielt dieser gerade einen halben Apfel zwischen den schwarzen Vorderpfoten und schaute ihn mit seinem Clownsgesicht an. Nun kam er zwei-, dreimal in der Woche, warf die Mülleimer um und suchte im Abfall nach Essbarem.
    Vor Kälte zitternd, sammelte Cardinal Fetzen von Plastikhüllen, leere Gebäckkartons und abgenagte Hühnerknochen zusammen, die

Weitere Kostenlose Bücher