Gefrorene Seelen
unscheinbaren Mann mittleren Alters vor, Hausmeister oder Bankangestellter, der sich in der Nähe von Spielplätzen herumtrieb und Kinder ins Verderben lockte. Allerdings kam er nicht auf den Gedanken, sich selbst für den Windigo zu halten. Das war bloß Fernsehhumbug von Journalisten, die sich Gespenstergeschichten ausdachten.
Doch die Polizei hatte nun eine Gestalt aus Fleisch und Blut. Und die stand draußen im Schneetreiben und wartete. Auf ihn. Na wenn schon. Dieses Wissen würde ihn nur noch stärker machen.
»Ich würde lieber sterben, als ins Gefängnis gehen«, sagte Edie gerade. »Ich würde es keinen Tag dort aushalten.«
»Niemand geht in den Knast«, sagte Eric zu ihr. Die Frau von der Kripo sei nicht ihretwegen gekommen. Er richtete die Kamera auf Edie und fuhr das Zoomobjektiv bis zum Anschlag aus, so dassNase und Wangenpartie das ganze Bildfeld ausfüllten. Weiß Gott, sie war keine Schönheitskönigin. Doch darin liegt die verborgene Stärke meiner Edie: Die Verachtung, die das Spiegelbild ihr einflößt, ist zugleich der Grund für ihre unbedingte Treue. Einen anderen Menschen ganz in der Hand zu haben ist auch nicht zu verachten, selbst wenn es sich bloß um Edie handelt.
Für absolute Ergebenheit drücken Sie bitte die 2
. »Du wirst doch wohl nicht so ein Schwächling werden wie die anderen Nullen da draußen?«, fragte er beiläufig. »Ich dachte, du wärst anders, Edie, aber vielleicht habe ich mich getäuscht.«
»Oh, sag so was nicht, Eric. Du weißt, dass ich zu dir stehe. Ich stehe zu dir, egal was geschieht.«
»Ich dachte, du hättest Mumm. Rückgrat. Aber mir kommen mittlerweile Zweifel.«
»Bitte, Eric. Verlier nicht den Glauben an mich. Natürlich bin ich nicht so stark wie du.«
»Würdest du an meine Stärke glauben, würdest du dich anders verhalten. Du glaubst wohl, nur weil ich gezwungen bin, in diesem Kaff hier zu leben, unterscheide ich mich nicht von den andern. Ich bin anders, Edie, ich bin kein gewöhnlicher Mensch, und du solltest auch nicht gewöhnlich sein, denn, ehrlich, ich verschwende meine Zeit nicht mit Nieten.«
»Ich werde stark sein, das verspreche ich. Manchmal vergesse ich eben, wie …«
Beide hielten inne und lauschten. Ein Pochen. Die alte Ziege von oben mit ihrem Spazierstock.
Edie war blass geworden. »Ich dachte, es wäre Keith«, sagte sie. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, ihn hier zu behalten. Das ist doch riskant, findest du nicht?«
»Nenn ihn nicht beim Namen. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«
»Also gut, unseren Gast. Findest du nicht, dass es riskant ist?«
Eric war es leid, ständig ihre Ängste zerstreuen zu müssen. Er nahm die Videokamera und ging die Treppe hinunter zu der Türneben dem Heizkessel. Mit einem Schlüssel, den er aus seiner Hosentasche zog, sperrte er das Hängeschloss auf und trat in das enge, feuchte Zimmer, in dem Keith London schlief.
Das quadratische Zimmer hatte ein früherer Hauseigentümer eingerichtet, um an Studenten zu vermieten, die das nahe Lehrer-College besuchten. Keith London lag mit offenem Mund auf dem Rücken, eine Hand hielt die Decke bis zum Kinn hochgezogen, die andere hing über der Bettkante, wie bei einer Leiche in der Badewanne. Aus dem kleinen Fenster gleich unter der Zimmerdecke, das Eric mit Brettern zugenagelt hatte, fiel nur ein schmaler Lichtstreifen. Die Wände waren mit billigen Kieferbrettern verkleidet.
Eric schaltete das Licht an.
Die schlafende Gestalt im Bett rührte sich nicht. Eric überprüfte die Fenster, die Türpfosten, alle möglichen Fluchtwege, obwohl es offensichtlich war, dass sein Gast das Bett nicht verlassen hatte. Auch ohne Party hatte sich dieses Opfer als üppiger Fang herausgestellt. In seiner Brieftasche befanden sich dreihundert Dollar, und außerdem hatten sie eine sehr schöne Gitarre, eine Ovation, aus dem Schließfach am Busbahnhof geholt.
Eric sah durch die Kameralinse, ohne einen Film eingelegt zu haben. Er zoomte auf das Gesicht des jungen Mannes. Die ersten dünnen Bartstoppeln zeigten sich an der Kinnspitze. Eine Zahnfüllung schimmerte aus dem Dunkel des offenen Mundes, und unter den geschlossenen Lidern huschten Augen im Traum hin und her.
Mit einem Summen auf den Lippen langte Eric mit einer Hand nach unten und ergriff einen Zipfel der Bettdecke, die Keith mit einer Hand hielt. Er zog die Decke bis zu den Knien herunter, schaute durch die Linse auf die haarlose Brust, den weißen, weichen Bauch und zoomte dann auf das kleine,
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