Gefrorene Seelen
schlaffe Geschlechtsteil. Als er Edie die Treppe herunterkommen hörte, zog er die Decke rasch wieder bis zu Keiths Kinn hoch.
»Der ist immer noch zu«, stellte Edie fest. »Das Zeug ist echtstark.« Sie beugte sich über das Bett. »He, du Genie! Auf und ran! Jetzt lass mal dein Licht leuchten!«
Eric reichte ihr die Kamera. Edie stellte das Objektiv scharf. »Er sieht so komisch aus«, kommentierte sie. »So richtig belämmert.«
Später schrieb Edie in ihr Tagebuch:
Ich wette, genau so sehen wir für Engel und Teufel aus. Sie sehen alles Böse, das wir tun, sie sehen alle unsere Schwächen. Da liegen wir völlig ahnungslos und träumen unsere süßen Träume, während diese geisterhaften Wesen die ganze Zeit über unserem Bett schweben, uns auslachen und auf den richtigen Augenblick warten, um in unsere Luftballons zu stechen. Der Junge weiß es noch nicht, aber ich sehe ihn schon bluten
.
21
V ielleicht lag es an seiner katholischen Erziehung, dass die Vorstellung, in der Madonna Road zu wohnen, immer eine Saite in Cardinal anschlug. Der Name hatte für ihn Anklänge an Gnade, Reinheit und Liebe. Die Madonna war die Mutter, die den Kummer über die Ermordung ihres Sohnes erduldet hatte, die Frau, die leiblich in den Himmel aufgenommen worden war, die Heilige, die für Sünder Fürsprache bei einem Gott hielt, der, seien wir ehrlich, ein ziemlich harter Knochen sein konnte.
Die Aura dieses Namens war nun beschmutzt – einem Popstar hatte es gefallen, Gnade durch Kommerz, Reinheit durch schrille Aufmachung und Liebe durch Sex-Appeal zu ersetzen –, doch Madonna Road war immer noch eine stille Gegend, eine schmale, im Bogen am westlichen Ufer des Trout Lake verlaufende Straße, wo Birken im Frost leise ächzten und Schneeklumpen lautlos von den Zweigen fielen.
Cardinal ging schon lange nicht mehr zur Messe, doch unabhängig davon war ihm die Gewohnheit geblieben, ständig sein Gewissen zu erforschen und sich selbst Vorwürfe zu machen. Er war sich selbst gegenüber ehrlich genug, zuzugeben, dass ihn diese Gewohnheit die meiste Zeit nur neurotisch, aber nicht gut machte. Auch jetzt hatte er Grund, so zu denken: Sein kleines Haus an der Madonna Road war so gemütlich wie ein Gefrierfach. »Winterfestes Cottage mit Seeblick«, so stand es in der Immobilienanzeige. Doch wenn die Temperaturen in den Keller gingen, konnte man das Haus nur dadurch warm halten, dass man gleichzeitig den Kamin und den Ofen mit ordentlichem Zug betrieb. Cardinal trug gefütterte Kordsamthosen und ein Flanellhemd, darunter lange Unterwäsche. Weil ihn immer noch fror, hatte er sich in einen Frotteemantel gehüllt. Obwohl er dampfend heißen Kaffee trank, blieben seine Hände klamm. Er hatte zehn Minuten gebraucht, um aus den gefrorenen Leitungen genügend Wasserfür den Teekessel zu erhalten. An diesem weniger begünstigten Stück der Madonna Road blies der Wind vom See herüber und pfiff durch die Fenster, ohne dass die teure dreifache Verglasung irgendetwas daran geändert hätte.
Die gefrorene Oberfläche des Sees war so weiß, dass Cardinals Augen schon tränten, wenn er nur hinsah. Zum Schutz zog er die Vorhänge zu. Irgendwo dort draußen am anderen Ufer des gefrorenen Sees, vielleicht auch mitten in der Stadt, ging der Mörder seinen Alltagsgeschäften nach. Vielleicht trank er auch gerade eine Tasse Kaffee, während Katie Pine schon unter den Toten weilte und ihre Mutter um sie trauerte; Billy LaBelle lag, Gott weiß wo, verscharrt, und Todd Curry lag in Toronto auf dem Obduktionstisch der Gerichtsmedizin. Der Mörder konnte sich auch Platten anhören – von Anne Murray zum Beispiel – oder mit der Kamera über der Schulter durch den blendenden Schnee wandern. Cardinal nahm sich vor, einmal den Fotoklub zu überprüfen, wenn es so was hier gab. Wenn der Mörder Fotos von Katie Pine gemacht hatte, konnte er sie schwerlich in einem Drugstore zur Entwicklung gegeben haben, er musste sie zu Hause selbst entwickeln. So ein Hobbyfotograf konnte Mitglied eines Fotoklubs sein.
Der Gedanke an Kameras brachte ihn auf Catherine. Zu den schlimmen Folgen ihrer Krankheit gehörte auch, dass sie aller kreativen Energie beraubt wurde. Ging es ihr gut, war das Haus voller Fotografien in verschiedenen Stadien der Entwicklung. Sie kam und ging, Kameras über beiden Schultern, und war Feuer und Flamme für ihr Projekt. Brach aber die Krankheit wieder aus, ließ sie als Erstes die Kameras liegen, so wie man auf einem sinkenden Schiff zuerst
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