Gefrorene Seelen
verwandelte sich von einem robusten Vater in eine blasse, jammervolle Gestalt, die weinend in sich zusammensackte.
Cardinal ignorierte ihn nicht, aber er sagte auch nichts. Er blickte ihn kurz an und sah dann durchs Fenster auf das Hochhaus gegenüber. Von dem dazwischenliegenden Parkplatz drang das hysterische, mechanische Geheul einer Autosirene herein. In der Ferne schimmerte Torontos CN-Tower in der Morgensonne.
Nach ein paar Minuten ließ das Weinen hinter ihm nach, und er reichte Mr. Curry eine Packung Papiertaschentücher, die er in einer Drogerie am Queensway gekauft hatte. Er machte nacheinander die Schubladen von Todds Kommode auf und tastete die Böden ab.
»Entschuldigen Sie. Sie glauben bestimmt, in eine Seifenoper geraten zu sein.«
»Nein, Mr. Curry. Das glaube ich ganz und gar nicht.«
Cardinal spürte das Hochglanzheft am Boden der untersten Schublade. Er holte es hervor und bat im Geist den Jungen um Vergebung, da er wusste, dass das hier wahrscheinlich geheimer und persönlicher war als alles Klebstoffschnüffeln und Kiffen. Er erinnerte sich an seine Stapel von
Playboy
-Heften aus der Jugend,doch die Hefte, die er jetzt in der Hand hielt, zeigten einen nackten Mann.
Mr. Curry hielt für ein paar Sekunden den Atem an; Cardinal hörte es. Er griff noch einmal in die Schublade und holte noch mehr Hefte hervor.
»Das zeigt, wie gut ich meinen Sohn kenne. Ich hätte das nie für möglich gehalten, nie im Leben.«
»Ich würde diese paar Bilder nicht überbewerten. Sieht mir eher nach Neugier aus. Er hat auch
Playboy
und
Penthouse
hier.«
»Das hätte ich nie gedacht, nie und nimmer.«
»Kein Mensch ist ein offenes Buch, Mr. Curry, weder Sie noch ich …«
»Mir wäre es lieber, seine Mutter bekäme das nicht zu sehen.«
»Sicher. Man muss ihr das nicht sagen, jedenfalls nicht sofort. Ruhen Sie sich doch ein bisschen aus, Mr. Curry. Sie müssen hier nicht dabei sein.«
»Edna, ist eine starke Frau, aber das hier …«
»Vielleicht wäre es besser, Sie sehen mal nach, wie es ihr geht.«
»Ja, danke, das mache ich. Ich kümmere mich mal darum, wie es Edna geht.« Cardinal fiel auf, dass sich Todds Vater, jedenfalls in den Augen eines Jugendlichen, wie eine Glucke benahm.
Vom Schreibtisch starrte ihn der Macintosh kalt und blind an. Cardinal verstand von Macs gerade so viel, dass er den Rechner hochfahren und im Startmenü die Liste der Programme finden konnte. Dazu brauchte er nur zwei Minuten, aber die Programme kannte er nicht. Er ging zurück ins Wohnzimmer und winkte Delorme, die neben Mrs. Curry auf der Couch saß und ein Familienalbum durchblätterte.
Seine Kollegin war auch keine Computerexpertin, aber gerade heute Morgen hatte er beobachtet, wie sie Flowers Macintosh einmal durchgecheckt hatte. Er kam sich dabei alt vor. Offenbar war jeder unter fünfunddreißig mit Computern vertraut, was ihn jedes Mal aufs Neue frustrierte. Delorme fuhr mit der Maus wie mit einem Hexengriffel herum.
»Können wir mal nachsehen, wo er vorzugsweise gesurft hat?«
»Ich bin schon dabei, das festzustellen. Threader heißt das Programm, sehr nützlich für diesen Zweck. Man stellt es so ein, dass es bei den Lieblingswebsites stoppt. Es steuert sie alle mit maximaler Geschwindigkeit an und geht sofort wieder raus, so dass Verbindungsgebühren gespart werden. Nur jemand, der viel online geht, hat so ein Programm.«
Der Bildschirm änderte sich und zeigte jetzt eine Liste von Newsgroups. Cardinal las sie laut vor: »Email, HouseofRock, HouseofRap – Rapmusik? Das ist doch ungewöhnlich für einen weißen Jugendlichen.«
»Oje, Sie leben aber hinter dem Mond.«
»Na schön, was hat man sich unter diesen ›Connections‹ vorzustellen?« Er zeigte auf das Icon eines sich küssenden Paares auf dem Bildschirm. »Ist das so eine Schmuddeladresse?«
»Nicht unbedingt. Gehen wir weiter und schauen mal, was wir so kriegen.«
Delorme machte einen weiteren Mausklick. Erst kam ein Wählton, dann der charakteristische hochfrequente Ton während des Handshake der Modems. Der Bildschirm scrollte rasend schnell und klickte ab.
»Es ist wie eine Stippvisite zu den beliebtesten Fischgründen«, erklärte Delorme. »Mal sehen, was wir da im Netz haben.«
Sie klickte durch die Messages. Viel Fachsimpelei über neue Spiele für Mac-Benutzer, alles nicht ausdrücklich an Todd gerichtet. Dann eine Diskussion darüber, wie man am besten an Karten für ein Aerosmith-Konzert im SkyDome kommt.
»Ah«, sagte Delorme.
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