Gefuehlsecht
immer noch nicht. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich Jürgen tatsächlich geheiratet hätte.
Dass er es letztendlich war, der mit mir Schluss gemacht hat, habe ich immer noch nicht so wirklich verdaut, obwohl ich ja dadurch um die unangenehme Situation gekommen bin, mich von ihm trennen zu müssen. Dass ich Nein gesagt hätte, ist ja wohl mittlerweile absolut und definitiv klar. Schluss machen aber habe ich immer gehasst. Ich mag es nicht, wenn Männer wegen mir weinen. Ich finde das ungemein belastend. Dass Jürgen allerdings die Beziehung beendet hat und noch nicht einmal Manns genug war, mir den wahren Grund dafür zu nennen, finde ich immer noch mehr als demütigend. Vor allem weil Jürgen Anwalt ist und Ehrlichkeit eine seiner größten Tugenden nennt. Hat er zumindest immer wieder betont.
Aber ich habe ja ein großes Herz und kann gut verzeihen. Das habe ich mal auf einem Yogi-Tee gelesen, bei dem auf jeder Verpackung eine andere Weisheit geschrieben stand. Was uns glücklich macht: Verzeihen und Mitgefühl . Ganz im Sinne von Buddha. Ich verzeihe Jürgen und wünsche ihm ein paar fette Pocken an den Arsch. Und wenn sie dann ordentlich anfangen zu jucken und zu wässern, dann werde ich mit ihm fühlen.
Ich lasse noch etwas heißes Wasser in die Badewanne laufen und betrachte meine dunkelroten Fußnägel. Der Lack ist schon halb ab. Vielleicht sollte ich gleich noch mal drüberstreichen? Oder aber den Rest entfernen? Meine Füße sind auch ohne Lack wunderschön.
Ich trinke noch einen Schluck Milchkaffee aus meiner großen Tasse, die auf dem Rand der Badewanne steht, da fällt mein Blick auf Schotte, den ich pro zweihundert Liter Badewannenfüllung mit jeweils zwei Euro gefüttert habe. In Schottes Bauch befinden sich genau einhundertzweiundneunzig Euro. Das heißt, im letzten halben Jahr habe ich sechsundneunzig Mal gebadet, im Schnitt etwa viermal die Woche.
Es hat eben alles seinen Sinn im Leben! Jetzt kann ich heute wenigstens ohne Bedenken einkaufen gehen. Mit einem ganzen Sack voll Eurostücken in der Tasche mache ich mich auf den Weg zu meinem Auto. Ich will gerade die Haustüre hinter mir zuziehen, da sehe ich den Postboten auf mich zukommen. Vielleicht hat er ja etwas für mich? Ja, hat er! Ich halte den Brief vom Prüfungsamt in meinen Händen. Mist. Jetzt wird es ernst.
Da kann ich auf keinen Fall im Stehen reingucken, also setze ich mich auf die Treppenstufe vor der Tür. Und dann bin ich sprachlos. Ich habe fünfzehn Punkte erreicht. Das ist ein Notendurchschnitt zwischen Eins und Zwei. Unfassbar. Eine gute Note im Jura-Examen ist so gut wie unmöglich. Man kann schon mit einer Vier zufrieden sein. Jürgen hat mit einer schlechten Drei abgeschlossen und war darauf schon stolz wie Oskar. Nur zehn Prozent schaffen den Abschluss mit einer Zwei, weniger als ein Prozent schaffen es mit einer Eins. Okay, ich habe noch meine mündlichen Prüfungen vor mir. Aber wenn ich die nicht verhaue, dann schaffe ich es. Dann werde ich wirklich Richterin! Maja flippt aus, wenn sie das hört. Ab Montag fange ich an zu lernen, Ehrenwort. Ich habe drei Monate Zeit. Das schaffe ich dicke! Aber erst einmal gehe ich einkaufen. Das muss gefeiert werden!
Wo geht man einkaufen, wenn man gerade frisch verlassen wurde? Wo geht Jürgen jetzt hin? Oder geht er heute nicht einkaufen? Vielleicht kann er ja gar nicht Auto fahren, weil er nicht sitzen kann – wegen der vielen Pocken, die nicht nur jucken und wässern, sondern auch bluten? Wahrscheinlich war Jürgen längst einkaufen. Es ist immerhin ein Uhr und da beschäftigen sich normale Leute mit den sinnvollen Dingen im Leben.
Aber was ist, wenn mein Ex heute auch später losgezogen ist, weil er denkt, damit könne er mir bei Edeka aus dem Weg gehen? Und wenn wir doch zusammenträfen? Ich meine, es würde mir absolut nichts ausmachen. Aber für ihn wäre es bestimmt total unangenehm.
Es ist schon eigenartig, wie man sich an bestimmte Dinge gewöhnen kann. Bei Edeka ist alles wunderbar übersichtlich. Ich weiß sofort, wo ich finde, was ich suche. Doch heute teste ich einen neuen Laden, der weit genug weg ist. Es könnte ja doch sein, dass Jürgen, Gewohnheitstier wie er nun mal ist, in unserem Edeka einkaufen geht. Man muss sein Schicksal ja nicht herausfordern. Dieser andere Supermarkt hier hat aber auch so seine Qualitäten. Ich gehe durch die Gänge und entdecke tatsächlich mir unbekannte Lebensmittel. So türmen sich völlig neue, wohlklingende
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