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Gefuehlsecht

Gefuehlsecht

Titel: Gefuehlsecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Russo
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Erdgeschoss und drückt mir ein Paket in die Hand. »Das hat der Postbote heute für Sie abgegeben. Ich war danach die ganze Zeit unterwegs. Aber ich dachte, ich bringe es Ihnen noch hoch, auch wenn es schon spät ist. Vielleicht ist es ja ein Nikolausgeschenk?« Freundlich zwinkert sie mir zu.
    Ich habe schon Ewigkeiten kein Paket mehr bekommen und bestellt habe ich auch nirgendwo etwas. Auspacken liebe ich – ohne Rücksicht auf Geschenkpapier und Verpackung. Das Päckchen ist nicht groß, aber irgendwie schwer. Absender steht keiner drauf. Ich hole mir ein gro ßes Küchenmesser und lege los. Zum Vorschein kommt ein riesiges Glas Nutella, eineinhalb Kilo. Wie genial ist das denn? Das ist bestimmt von Maja. Deswegen war sie vorhin so komisch am Telefon. Sie wollte wissen, ob das Paket schon angekommen ist. Eineinhalb Kilo Nutella. Das sind fast achttausend Kalorien. Grinsend gehe ich in die Küche und hole mir einen großen Löffel.
    Dann kuschele ich mich wieder in meine Decke und setze mich im Schneidersitz auf die Couch. Wenn ich das ganze Glas hier leerfuttere, sehe ich bestimmt bald aus wie eine alte, dicke Indianerin. Der Deckel knackt herrlich beim Öffnen. Ich steche durch die goldene Folie und ziehe sie ab. Die glatte, glänzende, noch völlig unberührte braune Masse lächelt mich einladend an. Und sie riecht einmalig nach Haselnuss und Schokolade. Mmmh! Vorsichtig fahre ich mit dem Löffel einmal im Glas herum, ganz nah am Rand lang, um ihn dann genüsslich in meinem Mund verschwinden zu lassen. Das Glas ist so groß, dass ich es mit beiden Händen halten muss. Süß sieht das Glas aus. Es ist vorne auf dem Etikett mit vielen kleinen Schneeflocken, Rentieren, Nikoläusen und Schneemännern bedruckt. Limited Edition 2008 . Ich drehe das Glas um und verschlucke mich fast an dem Löffel, der immer noch in meinem Mund steckt. Mit goldenem Edding hat jemand daraufgeschrieben:
Lass es dir schmecken – und ruf mich zu Hilfe, falls es in der Mikrowelle Funken schlagen sollte.
    Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf. Mist aber auch, dass ich Geschenke immer so unachtsam aufreißen muss. Es war kein Absender auf dem Paket. Oder etwa doch? Aufgeregt wühle ich in den Papierresten. Da! Es ist von Bruno. Und er wohnt in Dinslaken! Das ist gar nicht weit weg. Er hat den Absender direkt auf den Karton geschrieben und ich blöde Kuh habe ihn natürlich in tausend Teile zerlegt. Hektisch fange ich an zu puzzeln. Bruno, Eschenweg 50, Dinslaken. Fassungslos halte ich das Stückchen Karton in der Hand. Die 0 hinter der 5 könnte genauso gut eine 6 sein. Warum hat er nicht wenigstens seinen Nachnamen oder seine Telefonnummer dazugeschrieben?
    Irgendetwas pocht laut und fest von innen gegen meine Brust. Es ist mein Herz. Wo hat Bruno meine Adresse her? Da kann ja nur Maja dahinterstecken. Ich wähle ihre Nummer. Besetzt. Ist ja wieder mal typisch. Was mache ich jetzt? Es ist neun Uhr. Noch nicht wirklich spät für einen Samstagabend. Mein Blick fällt durch das Fenster nach draußen. Es schneit. Auch das noch! Bis nach Dinslaken brauche ich ungefähr zwanzig Minuten. Ich schlüpfe in eine bequeme Jeans und in einen dicken Rollkragenpulli. Vorsichtshalber lege ich noch jeweils einen Spritzer aus den neuen Parfumflakons auf. Ich rieche sinnlich nach Weihnachten. Immerhin ist heute Nikolaus.
    Eine halbe Stunde später fahre ich in Dinslaken durch den Eschenweg. Einmal rauf, dann wieder runter und dann noch einmal rauf. Die Hausnummer 50 befindet sich auf der linken Seite. Ein Mehrfamilienhaus. Bei meinem Glück war das ja klar. Ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht. Also schnell vorher noch den Wagen parken – vorsichtshalber ein paar Häuser weiter. So wie jetzt habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Na ja, vielleicht kurz vor meiner Führerscheinprüfung. Da war ich auch einem Ohnmachtsanfall sehr nahe, was eigentlich sehr merkwürdig war, weil ich sonst überhaupt nicht unter Prüfungsangst leide. Oder vielleicht wie damals, als wir noch klein waren und unter Hochspannung in unserem Kinderzimmer ausharrten, bis das Christkind endlich das Glöckchen klingelte und wir zum geschmückten Baum stürzen durften, wo wir dann innerhalb von Sekunden die ganzen Geschenke aufrissen. Irgendwie fühle ich mich gerade wie bei einer Führerscheinprüfung und Weihnachten zusammen.
    Ich betrachte das Haus von der gegenüberliegenden Seite aus und zähle die beleuchteten Fenster. Hier wohnen mindestens sechs Familien.

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