Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Flughafen nahm sie sich ein Taxi. Sie übergab Goerlitz die Seiten, die sie seit ihrem letzten Treffen verfasst hatte, er übergab ihr im Gegenzug die Seiten, die er beim letzten Mal bekommen hatte und die jetzt mit zahlreichen Durchstreichungen und Anmerkungen versehen waren, in einer zittrigen, schon ein wenig greisenhaften Schrift, für die Goerlitz sich schämte. Dann redeten sie drei oder vier Stunden lang. Goerlitz erzählte unsystematisch, wie es ihm gerade in den Kopf kam. N. versuchte, mit ihren Fragen Struktur, Chronologie und eine Bedeutungshierarchie in den ungeordneten Haufen von Erinnerungen zu bringen, der sein Leben war. Anschließend schauten sie sich meistens auf dem Videorekorder ein oder zwei alte Filme an, in denen er mitspielte. Gelegentlich stellte er den Ton ab und sprach den Text auswendig, sein Gedächtnis funktionierte noch. Zum Schluss nahmen sie im Living Room oder im Garten ein kleines Abendessen ein, das Goerlitz von dem Restaurant liefern ließ, dessen Dienste er auch immer für seine Gesellschaften in Anspruch nahm. Seit seine dritte Frau und er sich nur noch drei- oder viermal im Jahr sahen, waren die Gesellschaften selten geworden, er schaffte das nicht alleine, und seine Tochter konnte er, was Hilfe und Unterstützung in jeder Form betraf, vergessen. Heute gab es also, bei N. und ihm, einen weiteren, einen neuen Punkt in der Tagesordnung ihrer Begegnungen.
N. war ihm anders entgegengetreten als sonst. Sie wirkte nervös, während seiner Erzählungen stützte sie den Kopf auf ihre rechte Hand und drehte mit den Fingern ihre Haare zu Locken. Beim Abendessen stellte auch er hin und wieder Fragen, zum Teil aus Höflichkeit, zum Teil sogar aus echtem Interesse. Er wusste viel zu wenig über diese Generation und ihre Lebensweise. Zu seinem Erstaunen war N., trotz ihrer Jugend, verheiratet, mit einem ehemaligen Besatzungssoldaten, der sich als Musiker durchschlug. Obwohl N. es nicht erwähnte, vermutete Goerlitz, dass es sich um einen Neger handelte, ein Wort, das er selbstverständlich nur in seinen Gedanken verwendete.
An diesem Abend erzählte sie, dass er sie betrog, die andere sei sogar schwanger, Letzteres sei für sie ohnehin schmerzhaft, besonders schmerzhaft aber deshalb, weil sie sich selber, mit diesem Mann, ein Kind wünsche, das heißt, ganz sicher sei sie sich dieses Wunsches eigentlich nie gewesen. Aber sie habe zumindest glauben wollen, dass dieser Wunsch vorhanden sei. Mann, Frau, Kind, so geht das doch, sagte sie. Inzwischen glaubte sie, dass sie mit einem Kind von diesem charakterlich, wie ihr seit Langem klar sei, labilen Mann der ganzen Welt und speziell ihren Eltern etwas beweisen wollte. Das Kind wäre, so absurd es klingt, eine Art Unabhängigkeitserklärung und ein Akt der Rebellion gewesen, einer Rebellion, die ihr jetzt kindisch und unreif vorkomme. Sie habe den Mann nur benutzt. Sie habe ihn nicht als den gesehen, der er sei, sondern habe sich ein Wunschbild gemalt. Trotzdem sei er liebenswert. Sehr wahrscheinlich werde sie ihm verzeihen und versuchen, ihre Ehe neu zu gründen, realistischer und ehrlicher. Der Mann habe geschworen, die Mutter des Kindes, mit der er eine kurze, unbedeutende Affäre hatte, nur in Zusammenhang mit seinen Vaterpflichten wiederzusehen, um das Kind wolle er sich natürlich kümmern.
N. redete lange. Goerlitz nickte, fragte nach, schaute. Er konnte, schon immer, über fast jede zeitliche Distanz den Eindruck mitfühlenden und konzentrierten Zuhörens erwecken, auch dann, wenn er seine Ohren auf Durchzug stellte. Nicht das Reden, sondern das Zuhören war bei Frauen wichtig. Der Mann dieser bezaubernden Elfe schien jedenfalls ein klassischer Bruder Leichtfuß zu sein. Das musste nichts mit seiner Rasse zu tun haben, Goerlitz hatte, soweit er wusste, keine Vorurteile. Musiker waren eben so, Musiker ließen nichts aus.
Sie habe den Mann benutzt, aha. Gewiss, Menschen benutzten nun mal einander. An der jungen Generation, falls N. eine typische Vertreterin dieser Generation war, fiel ihm ihre Weltfremdheit auf. Sie staunten wie Kinder über die einfachsten Tatsachen des zwischenmenschlichen Zusammenseins, und dann glaubten sie auch noch, diese Tatsachen, die sie nur andeutungsweise begriffen, durch psychologisches Gerede verändern zu können. Wie der Abend weitergehen würde, war Goerlitz einigermaßen klar. Er fühlte sich der Sache nicht gewachsen, auch nicht dem unvermeidlichen Vergleich mit dem Ehemann, aber genau dieses Gefühl
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