Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Stattdessen schoss er. Während die Herde in Panik davonrannte, stand das Karibu noch einen Augenblick aufrecht, ganz allein, mit offenen Augen, dann brach es zusammen.
Walther Goerlitz, der aus sich herausgetreten war und nicht mehr hätte sagen können, mit wem und aus welchem Grund er sich gerade wo aufhielt, entspannte sich, jetzt, drei Wochen vor seinem sechsundachtzigsten Geburtstag, entspannte er sich zum letzten Mal auf diese Weise. Er würde das nie wieder versuchen.
7
»Die Probleme, die viele Frauen haben«, sagte Leo, »hängen mit dem Verhältnis zu ihrem Vater zusammen. Kein Mann wird sie jemals so bedingungslos lieben wie ihr Vater. Das heißt natürlich nicht, dass diese Frauen ein unproblematisches Verhältnis zu ihren Vätern hätten, im Gegenteil. Auf der einen Seite wollen sie loskommen von dieser übermächtigen, einengenden Figur. Auf der anderen Seite ist da so ein Hunger nach der totalen Verschmelzung, danach, vergöttert und auf Händen getragen zu werden, nach jemandem, der ständig bedingungslos für sie da ist. Das sind die Prinzessinnen. Bei einer Prinzessin hast du keine Chance, das wird nie gut gehen. Als Erstes checkst du am besten ab, ob sie eine Prinzessin ist.«
Sie saßen in einem Biergarten, in der Loretta. Leo redete und redete. Doubek hörte meistens zu.
Es war schon seltsam, dass sie miteinander befreundet waren. Doubeks Taxizeiten lagen inzwischen ein Weilchen zurück, inzwischen hatte er zwei Bars, die gut liefen, und einen Cateringservice. Außerdem war er immer noch ein bisschen politisch aktiv. Leos Firma hatte in einer seiner Bars ihr Weihnachtsfest gefeiert, dabei war ihnen aufgefallen, dass sie sich sympathisch fanden. Doubek war vor Jahren mit N. zusammen gewesen, sogar relativ lange, zwei Jahre, und Leo bis vor Kurzem, ebenfalls für beinahe zwei Jahre. Er war noch nicht darüber hinweg.
Diese Gemeinsamkeit, eine Art Bruderschaft doch wohl, hatten sie erst vor ein paar Wochen entdeckt, obwohl sie sich seit einem halben Jahr regelmäßig trafen und zusammen tranken und Leo ihm hin und wieder, wenn auch sehr allgemein, über die Schwierigkeiten mit seiner Freundin berichtet hatte. Den Namen erwähnte er nie, und Doubek fragte nicht, wozu auch.
»Die Prinzessin«, sagte Leo, »will gleichzeitig Nähe und Distanz. Klar, das geht nicht. Sie sucht jemanden, der alles für sie tut und nichts zurückhaben will. Sie sucht einen, der ihr alles verzeiht, umgekehrt verzeiht sie dir nichts. Im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist das ja tatsächlich so. Zwischen Erwachsenen kann es nicht funktionieren.«
Doubek nahm sein Glas, drehte es in der Hand und nahm einen Schluck. Inzwischen war N. offiziell geschieden. Sam, der Vollidiot, hatte Liza ein zweites Kind gemacht und lebte inzwischen irgendwo in Kalifornien, wo genau, wussten weder N. noch Liza, alle Achtung, diese Nerven muss einer erst mal haben.
»Das Prinzessinnensyndrom«, sagte Leo, »so heißt in Wirklichkeit das Gegenstück zum Ödipuskomplex. Freuds Idee vom weiblichen Penisneid war natürlich Humbug. Die Väter haben ja auch im 19. Jahrhundert eine viel distanziertere Rolle gespielt als heute. Ungefähr seit den fünfziger Jahren gibt es die wachsende Nähe des Vaters zu seinen Kindern. Deswegen nimmt der Ödipuskomplex, falls es den überhaupt jemals gegeben hat, in seiner Bedeutung ab, weil die Bedingung für den Ödipuskomplex, glaube ich jedenfalls, ein distanzierter Vater ist, den man als Junge hassen und beneiden kann. Während das Prinzessinnensyndrom bei Mädchen durch einen allzu nahen, allzu liebenden Vater entsteht, wie er als Massenerscheinung erst in der jüngsten Zeit auftritt. Habe ich mir alles ausgedacht.«
Doubek legte ihm die linke Hand auf den Arm, mit der rechten Hand deutete er auf denKellner.
»Klar«, sagte Leo. »Noch mal dasselbe. Ich finde meine Idee faszinierend, weil man in den Medien und in der populären Literatur relativ oft über das Verhältnis der Männer zu ihren Müttern nachdenkt. Müttersöhnchen, italienische Mama, die jüdische Mutter. Jeder weiß, da gibt es Prägungen, die Auswirkungen auf das Bindungsverhalten haben. Über Väter und Töchter liest man selten was. Ich sage dir, wenn du Schwierigkeiten mit einer Frau hast, liegt der Schlüssel oft in ihrem Verhältnis zum Vater. Etwas anderes kommt dazu. Auf dem Partnermarkt herrscht das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Du willst als Käufer für dein Kapital den bestmöglichen Gegenwert. Eine
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