Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
kannte er von der Bühne. Vorhang auf, hinausgehen, dann wird es schon.
Als Goerlitz sich, von N. unterstützt, auf dem beigen Teppichboden des Living Rooms entkleidet hatte, stimulierte er sie zunächst ein wenig, so war er es gewohnt. Nein, das stimmte nicht ganz. Das letzte Mal war bei ihm schon eine ganze Weile her, ein oder zwei Jahre, damals zeigte ein nicht ganz unwichtiges Filmfestival eine Walther-Goerlitz-Retrospektive, das war ehrenvoll und inspirierend gewesen. Auf dem Nachhauseweg war er in einer mittelgroßen Stadt aus dem Zug gestiegen. Er fühlte sich optimistisch und stark und traf sich mit, nun ja, einer Professionellen, die ihm einer seiner Freunde als diskret und niveauvoll empfohlen hatte, genauer gesagt, er hatte von ihr erzählt und dabei den Namen der Stadt und den Namen erwähnt, unter dem sie im Telefonbuch zu finden war. Die junge Frau war wirklich sehr freundlich, taktvoll und gebildet. Sie bat ihn, sich hinzulegen und alles Weitere ihr zu überlassen, ungefähr wie bei einer Massage.
Goerlitz trat während dieser Prozedur aus sich heraus und sah mit seinem Regisseursblick einen zahnlosen, kahlköpfigen Säugling mit faltiger, rotfleckiger Haut, der mit breitem Lächeln auf dem Rücken liegt und von zarten Händen gewickelt wird, er seufzte, schlüpfte wieder in sich hinein und überließ sich seinen Erinnerungen. Anschließend tranken sie Tee und plauderten über ihre Berufe, die ihnen erstaunlich verwandt vorkamen. Auf der Theaterbühne spielte man ebenfalls an jedem Abend die gleiche, nicht selten intime Szene und hatte es jedes Mal mit einem anderen Publikum und einer anderen persönlichen Tagesform zu tun. Routine und Ehrgeiz, künstlerisches Selbstbewusstsein und künstlerische Demut mussten sich, wie Goerlitz fand, in einem Gleichgewicht befinden, damit es eine optimale Vorstellung wurde.
Die Frau erzählte, dass sie sich allzu bizarren oder gar demütigenden Kundenwünschen widersetzte, weil sie sich das, in ihrer inzwischen herausgehobenen Position, erlauben konnte. Goerlitz erwiderte, dass er es mit den Wünschen der Regisseure immer genauso gehalten habe.
Walther Goerlitz glaubte sagen zu dürfen, dass die Frau und er beinahe als Freunde voneinander geschieden waren. Am nächsten Tag sandte er der Dame Blumen. Er dachte sogar, in einer romantischen Aufwallung, kurz darüber nach, ihr eine Autogrammkarte mit ein paar persönlichen Worten und dem Wunsch nach einem Wiedersehen zukommen zu lassen, sah dann aber doch davon ab.
Nun mühte er sich mit N., obwohl ihm sein Rücken wehtat und obwohl die Lust, die ihn bei ihren ersten vorsichtigen Berührungen angeweht hatte wie der schwache Windhauch vor einem Gewitter, längst wieder gegangen war, das Gewitter kam nicht. Goerlitz sah seine Hand, weiße Haut, die von einem Delta aus dicken blauen Adern und braunfleckigen Inseln bedeckt war, diese Hand, mit der er, nicht einmal ungeschickt, N. streichelte, und mehr als alles andere nahm ihm der Anblick seiner eigenen Hand jegliche Freude an dem, was er tat. N. wandte sich ihm zu, versuchte, ihn zu stimulieren, da war ein Enthusiasmus bei ihr, eine Hingabe, eine Begeisterung, ein Selbstvertrauen, das Goerlitz rührte. Während er ihr zuschaute, wünschte er ihr Erfolg, von ganzem Herzen, er drückte ihr die Daumen, am liebsten hätte er ihr, toi, toi, toi, über die Schulter gespuckt. So viel Engagement musste doch belohnt werden. Er kam sich vor wie ein undankbares Provinztheaterpublikum, das ein künstlerisch anspruchsvolles Gastspiel nicht zu schätzen weiß.
Sein Blick fiel auf das Karibu. Er dachte an die Weite des kanadischen Nordens, Wälder und Seen, ein Blick aus dem Flugzeug, er sah sich auf Schneeschuhen, wie er sich mit dem Eskimo, der ihn begleitete, an die Herde heranpirschte. Es dämmerte, frühester Morgen, das Eis knackte und übertönte das Geräusch ihres Atems. Goerlitz hob das Gewehr, er trug Fingerhandschuhe, er sah seine Hände, die ihm fremd vorkamen, und seinen Zeigefinger, der sich vorsichtig krümmte. Das Karibu, das er sich ausgesucht hatte, bemerkte etwas, es hob den Kopf, ihre Augen trafen sich, sie schauten sich an. Goerlitz zögerte, die Herde wurde unruhig, einige Tiere schüttelten sich, als wollten sie einen bösen Traum verjagen. Am Rand der Herde flohen die Ersten, aber das Karibu und er schauten sich immer noch an, für einen Sekundenbruchteil wollte Goerlitz aufstehen und auf das Karibu zugehen, es wäre nicht weggelaufen, da war er sich sicher.
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