Gefühltes Wissen
Bravo! Wunderbar! Ich danke Ihnen!» - es hat nie so funktioniert wie bei Karajan.
Im Restaurant. Ich will bestellen, aber der Kellner rennt recht konsequent an mir vorbei. Dem Mann drei Tische weiter scheint es noch schlechter zu ergehen. Er war wohl schon lange vor mir hier, aber wie's aussieht, hat der Ober ihn bislang nicht mal bemerkt.
Endlich kommt der Ober zu mir. Der Mann jedoch sitzt nach wie vor hilflos, unbemerkt und traurig, schüchtern den Finger hebend, an seinem Tisch. Gebe meine Bestellung auf:
- Einmal die 43 und ein Mineralwasser, bitte.
- Geht klar, die 43 mit oder ohne Fleisch?
- Ääh, die 43 sind die Schweinemedaillons.
- Schon klar. Mit oder ohne Fleisch?
- Äähm, wie's in der Karte steht.
Er greift zur Karte, um sich die 43 anzugucken. Ich nutze die Zeit, um etwas für meinen Leidensgenossen drei Tische weiter zu tun.
- Sagen Sie mal, der Mann dort vorne: Ist das nicht Ludger Mahrmann?
- Wer?
- Ludger Mahrmann. Doch, doch, das isser. Der große Ludger Mahrmann. Kenn Se nich?
- Warum?
- Na Ludger Mahrmann. Äääh, berühmter Maler, internationale Ausstellungen, unzählige Preise. Der Mann gilt als Genie, soll aber sehr schüchtern und bescheiden sein. Mensch, dass der hierher zum Essen kommt, Sie müssen wirklich gut sein.
Der Kellner schaut jetzt interessiert zum Nebentisch. In seinem Kopf beginnt es zu arbeiten.
- Ludger Mahrmann, Ludger Mahrmann, nee, warten Se mal, ich glaub, den Namen hab ich schon mal gehört.
- Unglaublich, Mensch, da geht man essen, nix Böses ahnend, und dann sitzt da Ludger Mahrmann, einfach so. Det is' Berlin.
Ich lache zum Kellner, aber der nimmt mich schon längst nicht mehr wahr. Voller Ehrfurcht und gebannt schaut er jetzt auf den schüchternen Mann drei Tische weiter. Der freut sich, weil er das Gefühl hat, sein beständiges Winken habe jetzt doch noch Erfolg gehabt. Noch ahnt er nicht, dass für ihn nun ein völlig neues Leben beginnen wird.
Zwei Minuten später wimmeln drei Kellner um den vermeintlichen Ludger Mahrmann. Er ist an den besten Tisch gebeten worden. Der Vorinhaber dieses Tisches sitzt jetzt etwas missmutig neben der Toilette. Vor Mahrmann prickelt ein Glas Sekt vom Haus. Einer der Kellner erläutert ihm die Karte.
Mahrmann selbst wirkt zwar noch ein wenig irritiert, scheint sich aber mehr und mehr mit der Situation anzufreunden.
Drei Tage später komme ich erneut in das Restaurant. Mahrmann ist auch wieder da und thront an seinem geschmückten Tisch. An der Wand hängt ein signiertes Foto von ihm.
Der Kellner berichtet mir stolz:
- Herrn Mahrmann scheint es sehr gut bei uns zu gefallen. Er ist jetzt praktisch jeden Tag hier!
Ich nicke lächelnd und bestelle von der Sonderkarte ein Spezialmenü «Ludger Mahrmann».
Der Kellner weiß mittlerweile auch weitere Details aus Mahrmanns Leben.
- Mensch, wer hätte das gedacht. Der berühmte Ludger Mahrmann lebt hier einfach bescheiden und anonym mitten unter uns. Entwickelt sogar, um unerkannt zu bleiben, eine komplette Scheinidentität als frühpensionierter Postbote Egon Kozonnek. Wir hatten ja keine Ahnung.
Tatsächlich muss ich in den nächsten Tagen bemerken, dass Mahrmann oder Kozonnek sein Leben in der Anonymität nun allerdings beendet hat. Der Kiosk an der Ecke bietet mittlerweile originale, unveröffentlichte Zeichnungen von Ludger Mahrmann an. Naive, fast krakelige Kohleskizzen, die sich alle irgendwie mit dem Alltag der Postzustellung befassen. Die Bäckerei offeriert Kuchenteilchen, die sie «Originale Mahrmänner» nennt - ein irgendwie etwas surreales Backwerk, das aussieht wie der Blaue Reiter und schmeckt wie Guernica.
Mahrmann, durch verkaufte Zeichnungen und Backwerklizenzgebühren zu einem gewissen Reichtum gekommen, hat sich mittlerweile entschlossen, auch äußerlich seiner herausragenden künstlerischen Stellung zu entsprechen. Mit Baskenmütze, langem Wollschal und wehendem Mantel flaniert er durchs Viertel und treibt Tantiemen ein. Sein spanischfranzösischer Akzent wirkt zwar noch etwas holprig, aber egal. Er genießt es, dass mittlerweile vor allem die Frauen des Viertels bei ihm Schlange stehen, um sich einmal vom großen Mahrmann porträtieren zu lassen. Dabei macht es den Frauen offensichtlich gar nichts, dass sie in den Augen des Künstlers immer zu krakeligen Kohlestrichmännchen beim Zustellversuch oder beim Postsortieren werden.
Ich verfolge amüsiert und auch ein wenig stolz das ganze Geschehen, bis ich eines Nachts einen
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