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Gefühltes Wissen

Gefühltes Wissen

Titel: Gefühltes Wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Evers
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verhängnisvollen Fehler mache. In der Kneipe an der Ecke nach dem vierzehnten Bier reitet mich plötzlich der Teufel, und ich beginne damit zu prahlen, wie ich mir diesen ganzen Ludger Mahrmann nur ausgedacht habe. Dass es diesen großen Künstler gar nicht gibt und ich nur wollte, dass er sein Essen bekommt. Eine ganze Weile redet es einfach so aus mir raus, weshalb ich gar nicht bemerke, wie die anderen Gäste immer ärgerlicher werden. Irgendwann beginnen sie mit mir zu schimpfen, dann zu schreien, schließlich zu bellen, bis sie mich endlich greifen und rauswerfen.
    Am nächsten Morgen oder vielleicht auch Mittag werde ich durch lautes Getrommel an meiner Wohnungstür geweckt. Ich öffne und sehe zwei sehr große Männer. Einer von beiden murmelt mir mit heiserer Stimme entgegen, dass er gern einmal mit mir über meine vermeintlichen Informationen über Ludger Mahrmann reden würde. Dann knackt der andere sehr laut mit seinen Fingerknöcheln. Ich schlage die Tür zu und verriegele sie dreifach.
    Den Rest des Tages verbringe ich in der Wohnung. Erst am späten Abend wage ich mich im Schutze der Dunkelheit zum Restaurant, wo alles begonnen hatte. Dort gibt es einen Kellner, der die ganze Geschichte kennt. Er ist mein Zeuge, er muss mir helfen.
    Es ist, als ob der Kellner mich schon erwartet hätte. Schnell führt er mich ins Hinterzimmer, wo Mahrmann schon auf mich wartet. Die beiden sehr großen Männer sind auch da. Mahrmann bietet mir einen Stuhl an und beginnt sofort zu reden:
    - Mein lieber Freund. Wir alle hier wissen, was du getan hast, was die Wahrheit ist.
    Die beiden Männer und der Kellner nicken. Dann blicken sie auffordernd zu mir. Geistesgegenwärtig nicke ich auch.
    Mahrmann fährt fort:
    - Wahrheit ist wichtig. Nur in der Wahrheit fühlen die Menschen sich wohl. Gibt man ihnen das Gefühl, in der Lüge zu leben, werden sie unzufrieden.
    Das Nicken der anderen wird heftiger. Ich nicke kräftig mit.
    - Was aber ist Wahrheit?
    Alle zucken die Schultern. Also auch ich.
    - Wahrheit ist das, was wir als solche definieren. Definieren wir die Wahrheit um, erhalten wir eine neue Realität.
    Mahrmann macht eine ausladende Handbewegung. Alle lächeln, und ich verstehe. Mahrmann ist verrückt geworden. Nicht schlimm verrückt, nur so ein bisschen verrückt. Eben so viel verrückt, wie halt Menschen sind, die vielleicht alle drei Matrix-Teile gesehen haben, während der langatmigen Erklärungssequenzen weggedöst sind und sich dann im Halbschlaf so viel aus dem zusammengeschusterten und -geklauten Matrix-Philosophiebrei abgreifen, wie sie für ihre eigene Psychose brauchen. Doch Mahrmann glüht längst vor Erleuchtung.
    - Wenn wir jetzt also eine Lüge haben, in der sich die Menschen wohlfühlen, ist es dann nicht das Beste, aus der Lüge Wahrheit zu machen, um so eine bessere Welt zu erhalten?
    Alle starren mich an. Ich muss antworten, also sage ich:
    - Die einen sagen so, die andern so.
    Mahrmann wird ärgerlich.
    - Eine funktionierende Lüge ist allemal besser als eine deprimierende Wahrheit. Aber kein Mensch mag ewig in der Lüge leben. Also müssen wir die Lüge zur Wahrheit machen. Das ist Fortschritt.
    - Sie wollen also so weitermachen?
    - Natürlich, ich muss. Ich würde sonst viele Menschen unglücklich machen.
    - Also gut. Tausend.
    - Was?
    - Tausend Euro. Dann können alle glücklich bleiben, insbesondere auch ich.
    Alle schauen mich sehr streng an. Ich schaue streng zurück.
    Mahrmann zischt:
    - Es geht hier doch nicht um Geld, es geht um Zufriedenheit.
    - Die Grenze zwischen Zufriedenheit und Geld ist für mich fließend.
    Mahrmann macht eine ärgerliche Handbewegung. Ich werde von den beiden Männern rausgeführt.
    Am nächsten Tag finde ich 500 Euro in meinem Briefkasten.
    Immerhin.
    Mahrmanns Ruhm hält noch ungefähr ein halbes Jahr an. Dann kommt es zu einer mittelprächtig erfolgreichen Ausstellung. Er wird als richtiger Künstler anerkannt, woraufhin er standesgemäß in eine Schaffenskrise gerät und irgendwann nicht mehr malen kann.
    Ich jedoch freue mich über eine neu erschlossene Verdienstmöglichkeit. Immer wieder reise ich seitdem in andere Bezirke oder Städte, erschaffe dort einen neuen berühmten Maler, Schriftsteller oder Philosophen und schaue dann ein Dreivierteljahr später nochmal vorbei, was aus meiner Erfindung geworden ist. Man kann mich übrigens auch mieten. So ein bisschen lässt sich die Karajan-Strategie im alltäglichen Leben doch umsetzen.

Gott klingelt
    Nach

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