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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Haaren. Weil sie es so wollte.
    Plötzlich riss sich Henry los und rief: »Ich muss hier raus! Ich hab hier nichts zu suchen. Das ist doch alles Wahnsinn! Hilf mir, Bess! Bring mich wieder zurück! Ich will nach Hause!« Und dann rannte er davon. Wie von Sinnen. Wie auf der Flucht. Und verschwand in der Dunkelheit.

7

    Bess war nach wie vor völlig durcheinander und konnte sich keinen Reim auf Henrys merkwürdiges Verhalten und seine unverständlichen Worte machen. Sie saß auf einem Stein unter der alten Feldulme, deren immer noch dichtes Blätterdach den Blick auf den wolkenlosen Sternenhimmel und die schmale Mondsichel versperrte, und versuchte zu ergründen, was um alles in der Welt in Henry Ingram gefahren war. Was hatte das zu bedeuten? Was wollte der Kerl von ihr? Wobei sollte sie ihm helfen? Und von welchem Verräter hatte er gesprochen?
    Ebenso unbegreiflich und beinahe noch verstörender waren jedoch ihre eigenen widerstreitenden Gefühle und widersprüchlichen Gedanken. Ganz andere Fragen gingen ihr im Kopf herum: Was wollte sie von Henry? Wieso war sie so enttäuscht gewesen, als seiner festen Berührung kein fordernder Kuss gefolgt war? Und wieso raste ihr Herz bei dem Gedanken an Henrys verzweifelte Tränen und bei der Erinnerung an den ranzigen Geruch seiner Haare?
    Bess hatte sich nicht unter Kontrolle, sie war nicht mehr Herrin ihrer selbst, und das machte ihr Angst. Es bedeutete Gefahr. Sie hatte das schon einmal erlebt und sehnte sich wahrlich nicht nach einer Wiederholung. Das hatte sie sich hoch und heilig geschworen!
    Mit Gewalt musste sie ihre Gedanken wieder auf ihre jetzige Situation und Mission lenken. Die Sonne war seit Langem untergegangen, das dunkle Purpur des Himmels war zu einem undurchdringlichen Schwarz geworden. Bess hatte jedes Gefühl für die Zeit verloren, doch dass Mr. Milton nicht mehr zu ihrem Treffen erscheinen würde, begriff sie dennoch. Es musste inzwischen gegen Mitternacht gehen. Ob sie womöglich zu spät gekommen war? Nein, Mr. Milton hatte gesagt: »Kommt nach Sonnenuntergang zur alten Ulme.« Und sie war da gewesen. Pünktlich. Mit dem Gin, den er sich als Dank erbeten hatte. Den würde sich der Trinker doch bestimmt nicht entgehen lassen. Nicht aus freien Stücken!
    Der Gedanke, der sich ihr mit einem Mal aufdrängte, war beunruhigend. Vielleicht war Mr. Milton daran gehindert worden, zur Ulme zu kommen. Und ohne rechten Grund hatte sie plötzlich das schiefe Grinsen des Wirts vor Augen, als er ihr die Flasche Gin verkauft hatte. Als hätte er bereits gewusst, dass sie mit dem Schnaps nichts mehr ausrichten könnte.
    Sie fuhr erschrocken in die Höhe, raffte ihr Kleid und lief stolpernd den Hügel hinunter, bis sie die Hainbuchen erreicht hatte, welche die bewirtschafteten Felder in der Ebene umgaben. Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Eindruck, dass sich hinter ihrem Rücken etwas bewegte, doch als sie zum Hügel von Piper’s Green zurückblickte, konnte sie nichts erkennen.
    »Mr. Milton?«, rief sie in die Dunkelheit, doch es antwortete ihr nur der Ruf einer Waldohreule. Bess wartete eine Weile, aber es blieb alles ruhig, und keinerlei Bewegung deutete darauf hin, dass sich außer ihr noch jemand in Piper’s Green aufhielt.
    Auf dem Weg nach Edgworth hielt sie nach allen Seiten Ausschau, ohne recht zu wissen, wen oder was sie zu sehen hoffte oder fürchtete. Kein Mensch begegnete ihr, kein verdächtiger Ton drang an ihr Ohr, bis sie die Kirche von St. Margaret erreicht hatte. Und als sie unweit der Kirche flackerndes Licht hinter den Butzenscheiben des Milton-Cottages sah, näherte sie sich der Kate und klopfte zögerlich an die Tür. Es plagte sie die bange Vorahnung, dass hinter dieser Tür weitere schlechte Nachrichten auf sie warteten.
    Die niedrige Tür öffnete sich einen Spaltbreit, und der Kopf von Mrs. Milton erschien. »Was wollt Ihr?«, fragte sie unfreundlich.
    »Entschuldigt die späte Störung, Ma’am«, sagte Bess und neigte den Kopf. »Wisst Ihr zufällig, wo Euer Mann ist?«
    »Zufällig? Was soll das denn heißen?«, erboste sich die Frau. »Natürlich weiß ich, wo mein Mann ist. Er sitzt drinnen in der Stube.«
    »Er ist hier?«, entfuhr es Bess, halb erfreut, halb verblüfft.
    »Wo soll er um diese Zeit sonst sein?«
    »Kann ich ihn sprechen?«
    Mrs. Milton zögerte merklich, zuckte schließlich mit den Schultern, öffnete die Tür und ließ Bess hinein.
    Das Bild, das sich ihr in der Wohnstube bot, machte Bess sprachlos.

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