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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Piper’s Green befand sich auf halbem Weg zwischen dem Dorfkern und der alten Edgworthberry Farm, dem Hof des Gutsherrn von Edgworth. Wie es hieß, gehörte es einst zu den Pflichten des Gutsherrn, stets einen Spielmann oder Flötenspieler zur Belustigung seiner Pachtbauern in Diensten zu halten, doch außer dem Flurnamen Piper’s Green war von dieser alten Sitte nichts übrig geblieben.
    Als Bess die Hauptstraße erreichte, die von London aus bis nach St. Albans führte und angeblich bereits von den alten Römern gebaut worden war, sah sie die späte Postkutsche aus London vor einem Inn halten. Das Innere der Kutsche war bis auf den letzten Platz gefüllt, und auch auf dem Kutschbock und dem Dach drängten sich einige Männer, die inmitten der Koffer und Reisetaschen saßen. Einer dieser Männer sprang in diesem Augenblick hinten von der Kofferablage, auf der er die Reise verbracht hatte, und verschwand im Inneren der Postschänke. Bess’ Blick wanderte nach Süden, in Richtung London, und blieb am sogenannten Turnpike, der Mautstation, haften, die sich unweit von Edgworth befand und erst vor wenigen Jahren errichtet worden war. Zwei Reiter entrichteten gerade den Wegezoll, blieben aber mit ihren Pferden am Zollhaus stehen, auch als der Mautner längst wieder in seinem Haus verschwunden war. Bess konnte nur die Schatten der Reiter sehen, die anscheinend auf jemanden warteten, denn weder stiegen sie vom Sattel, noch gaben sie den Pferden die Sporen.
    Eine Glocke an der Postschänke ertönte – das Signal zur Abfahrt. Die Fahrgäste begaben sich wieder auf ihre Plätze, Koffer wurden verrückt und festgezurrt, und dann setzte sich die Postkutsche mit Peitschenknallen und lauten Kutscherkommandos in Bewegung. Der unbequeme Platz auf der hinteren Kofferablage blieb leer.
    Bess schaute erneut zum Turnpike, doch die beiden Reiter waren nirgends mehr zu sehen. Seltsam, denn außer der Kutsche hatte niemand das Dorf auf der Hauptstraße passiert. Aber Bess hatte Wichtigeres im Sinn und ging weiter. Vor sich sah sie nun die Kirche von St. Margaret und direkt gegenüber das Cottage, das einst ihr Elternhaus gewesen war. Sie hatte die Absicht, ein Stück der Hauptstraße zu folgen und sich hinter dem Dorf nach Nordwesten zu halten, wo der grüne Hügel mit der alten Ulme weithin sichtbar war.
    »Bess!«, rief in diesem Augenblick eine Männerstimme hinter ihr.
    Bess fuhr herum und war wie vom Blitz getroffen, als plötzlich Henry Ingram vor ihr stand. Obwohl sie sich noch vor Kurzem gewünscht hatte, den komischen Kauz an ihrer Seite zu haben, fuhr sie nun erschrocken und beinahe peinlich berührt zusammen und starrte den jungen Mann an, als wäre er ein Gespenst. Vielleicht lag das auch an Henrys seltsamem Gesichtsausdruck und seinem ganzen Gebaren. Er wirkte gehetzt und unruhig und hatte schwarze Ränder um die Augen, als hätte er seit ewigen Zeiten nicht geschlafen. Vor allem aber war es sein Blick, der ihr Angst machte. In seinen weit aufgerissenen Augen lag etwas Unheimliches und Alarmierendes.
    »Henry!«, rief Bess und senkte den Blick, um ihm nicht länger in die Augen zu schauen. »Wie kommst du denn hierher?«
    »Mit der Postkutsche«, antwortete Henry. »Der Kutscher hat mich eine Meile hinter Hampstead Heath aufgelesen und freundlicherweise auf der Ablage mitfahren lassen.« Er näherte sich bis auf Armeslänge und sagte unvermittelt: »Blueskin ist tot!«
    »Oh, mein Gott!«, entfuhr es Bess. »Was ist passiert?«
    Während sie gemeinsam der Hauptstraße in nördlicher Richtung folgten und dabei beide den Blick gesenkt hielten, berichtete Henry in hastigen und fahrigen Worten, was ihm seit ihrer Trennung am gestrigen Morgen widerfahren war. Erleichtert vernahm Bess, dass Mr. Pepusch Zuflucht bei Mr. Gay im Burlington House an der Piccadilly gefunden hatte und somit fürs Erste in Sicherheit war. Doch dieser guten Nachricht folgte umgehend die schlechte. Mit zunehmendem Schrecken hörte Bess, was Henry über den Brand des Hauses in der Dirty Lane und den Tod der Geschwister Blake zu erzählen wusste. Zwar hatte Henry die Leichen von Blueskin und Hope nicht gesehen, weil er sich noch während des Feuers entfernt und zu Fuß auf den beschwerlichen Weg nach Edgworth gemacht hatte, doch dass das zurückgebliebene Mädchen während des Brandes im Haus gewesen war, ergab sich laut Henry schon daraus, dass ihr Bruder sich wie ein Wahnsinniger in die Flammen gestürzt hatte. Und dass Blueskin in den Flammen

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