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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Dröhnen in seinem Kopf ganz zu schweigen. Erst kurz vor Ludgate Hill erreichte er sie, als sie unter einem schmalen Torbogen zwischen zwei Häusern innehielt und auf ihn zu warten schien.
    Henry näherte sich ihr langsam und hob entschuldigend die Hände. »Tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe«, sagte er und schnaufte atemlos. »Aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.«
    Bess sah ihn lange und eindringlich an. Ihr Kiefer mahlte unruhig, ihr Busen hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Dann nickte sie schließlich, streckte wie zur Versöhnung die Hand nach ihm aus und rammte ihm, als er sich ihr näherte, das Knie mit voller Macht zwischen die Beine.
    Henry ging wie ein gefällter Baum zu Boden. Während er röchelnd und sich windend im Dreck lag, sich den Unterleib hielt und nach Luft schnappte, kam Bess seinem Gesicht ganz nahe und sagte ruhig und ohne jede erkennbare Regung: »Mach das nie wieder!«
    Henry rappelte sich unter Schmerzen auf, hielt sich nur mühsam auf den Beinen und meinte: »Ein einfaches ›Dankeschön‹ hätte es auch getan.«
    Bess lachte abfällig und schüttelte den Kopf. »Jetzt jammer nicht rum, Macheath! Die Wärter werden den Braten bald riechen, und dann gibt’s hier ringsum einen Heidenaufstand.«
    »Okay«, murmelte Henry.
    »Was?« Bess sah ihn verständnislos an.
    »Ay, in Ordnung«, verbesserte sich Henry.
    Bess nickte und sagte: »Wir sollten schleunigst verschwinden.«
    »Wohin?«
    »Zum Black Lion Inn. Die anderen warten vermutlich längst da.«
    »Und wo ist das?«
    »Das weißt du nicht?!« Bess sah ihn entgeistert an und fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne, als wollte sie Essensreste entfernen. »In der Drury Lane. Die wirst du hoffentlich kennen.«
    »Und ob!«, sagte Henry und unterdrückte ein Grinsen. »Die kenn ich.«
    »Wir gehen lieber getrennt«, meinte Bess mit finsterem Blick und deutete zum Ludgate Hill. »Nach unserem Auftritt im Newgate sollten wir nicht zusammen gesehen werden. Warte, bis ich außer Sichtweite bin!«
    Sie wandte sich ab, doch Henry hielt sie am Ärmel fest und sagte: »Eine Frage noch! Wie ist Jack eigentlich rausgekommen?«
    »In Frauenkleidern«, antwortete Bess knapp. »Hast du doch gesehen.«
    »Nein, ich meine, wie ist er aus der Zelle gekommen?«
    »Mit ’ner Feile und viel Glück«, sagte sie und lachte plötzlich wie über einen Witz. »Bis vor einer Woche saß Jack mit ’nem armen Teufel in der Zelle, der wie er auf die Hinrichtung wartete. Dieser Mann hat die eisernen Spitzen in dem Sichtfenster zwischen Todeszelle und Besucherraum mit einer Feile bearbeitet. Da man nur bei Besuch die Hand- und Fußfesseln gelöst bekommt, hat er Wochen dafür gebraucht. Dummerweise wurde er am Galgen aufgeknüpft, bevor er fertig war und selbst die Biege machen konnte. Und als er nach Tyburn gebracht wurde, hat er Jack seine Feile dagelassen. Der Rest war ein Kinderspiel, jedenfalls für einen schmächtigen Mann wie Jack.« Sie überlegte und setzte dann hinzu: »Das mit den Frauenkleidern war übrigens meine Idee.«
    »Respekt«, sagte Henry.
    »Respekt?«, wunderte sich Bess, zuckte mit den Schultern und hastete davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. Sie bog rechts in die Fleet Street ein und verschwand im Getümmel.

4

    Wann war Henry das letzte Mal in der Fleet Street gewesen? Das musste Jahre her gewesen sein. Als seine Schwester Zoe noch als Anwältin gearbeitet hatte – also vor ihrer bedauernswerten Heirat mit dem stinkreichen James –, hatte sie sich mit drei weiteren Anwälten eine kleine Kanzlei in den südlich der Straße gelegenen Inns of Courts geteilt. Damals hatte sich Henry manchmal mit Zoe auf ein Feierabendbier im Ye Olde Cheshire Cheese getroffen, einem düsteren und höchst eigenwilligen Pub nördlich der Fleet Street, der von sich behauptete, einer der ältesten in der City zu sein. Nur wenige Touristen, dafür allerlei Anwälte flanierten heute noch die einst ruhmreiche Fleet Street entlang, zumeist auf dem Weg zu The Temple, den labyrinthartig angeordneten Gebäuden der altehrwürdigen Anwaltskammern. Im Mittelalter hatte dieses Gelände zwischen Fleet Street und Themse den Tempelrittern gehört – daher auch der Name –, und noch heute wirkte der Temple wie eine geheimnisvolle Stadt in der Stadt. Die angrenzende Fleet Street selbst hatte wenig Vergleichbares zu bieten, den einstigen Ruf als Presse- und Zeitungsmeile hatte die Straße bereits vor

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