Gegen alle Zeit
Jahrzehnten eingebüßt. Keine renommierte Zeitung wurde hier noch gedruckt, kein namhaftes Verlagshaus hatte seinen Sitz in der Straße. Die Fleet Street war nichts weiter als eine laute Durchgangsstraße mit hässlichen Bürogebäuden, ein paar alten Kirchen und einigen wenigen Hausfassaden aus der Tudorzeit.
Wie anders war jedoch der Anblick der Straße, als Henry nun die Fleet Street betrat und sich vor Erstaunen einmal um die eigene Achse drehte. Im Osten sah er das mit einem schweren Fallgitter versehene Ludgate, das westlichste der sieben Tore in der alten Stadtmauer, und dahinter die mächtige Kuppel der Kathedrale von St. Paul. Nach Westen hin erblickte er eine schnurgerade Straße, auf der sich die Kutschen, Karren, Sänften, Reiter, Fußgänger und Haustiere gegenseitig den Platz streitig machten. Gesäumt wurde die Straße von zahllosen Weinhäusern, Buchhändlern, Kaffeehäusern, Tuchhändlern und Tavernen. An beinahe jedem Haus hingen Schilder, oft mehrere übereinander, überall wurden Dienstleistungen oder Waren angeboten. Barbiere, Apotheker, Wundärzte, Drucker, Bäcker, Gin-Händler.
Henry war wie vor den Kopf geschlagen und konnte kaum fassen, was er hörte und sah. Besonders beeindruckte ihn das Spektakel, das auf einer kleinen Brücke unweit von Ludgate Hill veranstaltet wurde. Zahlreiche Schausteller und Artisten, Feuerschlucker, Quacksalber und Akrobaten präsentierten dort wie auf einem Jahrmarkt ihre Künste und Fähigkeiten und baten um angemessene oder zumindest milde Gabe. Henry begriff zunächst nicht, was das für eine Brücke war, doch als er zur Linken die Kirche von St. Bride sah, deren Turm an eine in die Länge gezogene mehrstöckige Hochzeitstorte erinnerte und deren Aussehen sich in den letzten drei Jahrhunderten kaum verändert hatte, dämmerte ihm, dass diese Brücke über den Fleet führte. Einen Fluss, den es inzwischen nur noch dem Namen nach gab, der aber jetzt einen solch bestialischen Fäkaliengestank verströmte, dass Henry begriff, warum man ihn vor langer Zeit zugeschüttet hatte.
Auf der Nordseite der Straße, unweit des Flusses, sah er eine kleine, recht unscheinbare Schänke, auf deren Schild ein Stück Hartkäse abgebildet war. »Ye Olde Cheshire Cheese« stand in schnörkeliger Schrift darunter.
Beim Anblick der Schänke überfiel Henry ein unerklärlicher Schrecken; er fuhr herum und rannte beinahe panisch auf der Fleet Street in westlicher Richtung. Weil es keinen Gehsteig gab, wäre er um Haaresbreite unter die Räder einer der zahlreichen Mietkutschen geraten, die sich auf der Straße regelrechte Wettrennen lieferten. Er flüchtete sich in einen Torweg, atmete tief durch und betrachtete die Auslagen eines Buchhändlers, als könnte er darin die Lösung des Rätsels finden. Er merkte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, und wischte sie ärgerlich fort. Verzweiflung half ihm nicht weiter, und er schalt sich innerlich für seinen Anflug von Panik.
Schließlich hatte er sich so weit beruhigt, dass er seinen Weg fortsetzen konnte. Nach einer Weile erreichte er einen Torbogen, der die Straße in ganzer Breite überspannte. Dies war die Temple Bar, ein wunderschöner und reich verzierter Torbau aus weißem Kalkstein, der das westliche Ende der Stadt London markierte. Dahinter begann die City von Westminster. Seltsamerweise kam Henry das Tor bekannt vor, obwohl heutzutage an derselben Stelle nur eine Steinsäule mit einer Drachenstatue auf die einstige Stadtgrenze hinwies. Erst als er das Tor durch einen der beiden seitlichen Durchlässe passierte, erinnerte er sich, dass er erst vor wenigen Tagen durch genau diesen Durchlass gegangen war. Heute stand derselbe Torbogen nämlich am Eingang zum neu gestalteten Paternoster Square, nördlich der Kathedrale von St. Paul, flankiert von Starbucks und McDonald’s.
Von der Temple Bar bis zur Drury Lane war es nur ein Katzensprung, vorbei an der Kirche von St. Clement Danes, wo eine schmale und dicht bebaute Gasse nach Norden hin abbog. Als Edgworth Bess ihn vorhin gefragt hatte, ob er die Drury Lane kannte, hatte Henry nur mühsam ein Grinsen unterdrückt. Natürlich kannte er die Straße, immerhin war er Schauspieler. Dort befand sich das Theatre Royal, das älteste Theater Londons, das an gleicher Stelle bereits im 17. Jahrhundert existiert hatte. Auch das New London Theatre war in der Drury Lane, und wie bei seinem ungleich bekannteren Nachbarn gingen auch hier die Ursprünge bis in die Zeit der
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