Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
Vater ist ihm peinlich.«
    Blueskin dachte an seine eigene Mutter und meinte: »Familie eben.«
    »Ein wahres Wort!« Geoff lachte und ließ sich von der Strömung nach Süden treiben. Zurück zu den Drapers’ Gardens.

8

    Blueskin wusste natürlich, welchem Zweck die gemauerte Rinne diente und wohin sie führte, aber dennoch hätte er nicht gedacht, dass es derart ekelerregend werden würde. Je höher er kletterte, desto mehr wimmelte es von Ratten und vielbeinigem Ungeziefer, das ihm über die Hände und das Gesicht krabbelte, und desto tiefer kroch er durch den Kot, der offensichtlich nur selten oder gar nicht mit Wasser weggespült wurde. Vielleicht lag es auch daran, dass das Gefälle der Abwasserrinne nicht besonders groß war – was das Hochsteigen erleichterte, aber die Sauberkeit minderte.
    Auf den letzten Yards wurde die offene Rinne zu einem rundum geschlossenen Rohr, das senkrecht nach oben ging, aber breit genug war, dass er ohne größere Schwierigkeiten hindurchklettern konnte und schließlich unter einer Art steinerner Bank landete, in die zwei Reihen kreisrunder Öffnungen eingefügt waren. Blueskin hatte den Abort der Irrenanstalt erreicht. Den Hintern von Bedlam, wie Geoff es genannt hatte.
    Normalerweise wurden Latrinen über einer Sickergrube oder einem Senkkasten errichtet, die immer wieder geleert werden mussten, wenn nicht die Abtritte selbst von Grube zu Grube wanderten. In Bedlam war dieses ebenso aufwendige wie unappetitliche Verfahren überflüssig. Die Erbauer der Anstalt hatten den unterirdischen Lauf des Walbrooks genutzt, um den Dreck des Irrenhauses auf dezente Weise in die Themse zu schaffen. Und sie hatten gleichzeitig einen unsichtbaren Ausgang geschaffen. Beziehungsweise einen Eingang, wie Blueskin gerade bewiesen hatte.
    Er zwängte sich durch eine der Öffnungen in der Steinbank, schüttelte sich wie ein nasser Hund und tastete sich zur Tür vor, die mit einem Metallschloss versehen, dessen Riegel aber von innen mit einer Schnappvorrichtung zu öffnen war. Die Tür führte zum Innenhof des Hospitals, und nachdem Blueskin sich vergewissert hatte, dass keine Menschenseele im Hof war, schlich er sich hinaus und verkroch sich in einem dunklen Winkel unterhalb der Stadtmauer, die das Gelände nach Süden hin abschloss und auf der Mauerkrone mit langen Eisenspitzen bewehrt war.
    Wie erfrischend und wohltuend die Londoner Stadtluft sein konnte und wie blendend hell eine finstere Neumondnacht! Blueskin schaute zum Himmel und sah die funkelnden Sterne, wie er sie noch nie zuvor wahrgenommen hatte. Er atmete tief ein und bemerkte erst jetzt, wie bestialisch er stank. Seine Haut war von Kopf bis Fuß mit Kot bedeckt, ebenso die Brandblasen auf der Schulter, die brannten und schmerzten, als stünden sie erneut in Flammen.
    Da seine Augen an die völlige Finsternis unter Tage gewöhnt waren, konnte Blueskin die Umrisse der verschiedenen Gebäude und Mauern vor dem wolkenlosen Sternenhimmel erkennen. Er sah das zentrale Eingangsgebäude mit den beiden Seitenflügeln zur Linken und zur Rechten, und er sah den kleineren Trakt für die Unheilbaren, der sich direkt an das Hauptgebäude anschloss und den Geoff »die Baustelle« genannt hatte. Wie unschwer zu erkennen war, fehlte das Dach auf dem unfertigen Gebäude, nur der ungedeckte Dachstuhl ragte in den Himmel, und die rückwärtige Fassade, die beinahe an die Stadtmauer stieß, war bis zum Giebel mit einem hölzernen Baugerüst verkleidet. Ein Flaschenzug an einem schwenkbaren Balken befand sich am oberen Ende des Gerüsts und erinnerte Blueskin an einen Galgen. Über ein Seil war der Flaschenzug mit einem riesigen Sprossenrad und mehreren Seilwinden und Haspeln am Boden verbunden. Die Vorrichtung diente offenkundig dem Zweck, schwere Lasten auf das Dach zu befördern.
    Beim Anblick des unverputzten Gebäudes, das einem Rohbau glich und gewiss noch nicht in Verwendung war, kamen Blueskin Zweifel an den Worten seiner Schwester. Warum sollten Henry und Bess ausgerechnet in diesem Haus untergebracht sein und festgehalten werden? Dann aber gab er sich selbst die Antwort auf die Frage: weil sie hier vom Rest der Anstalt getrennt waren und keinerlei Kontakt zur Außenwelt hatten. Keine neugierigen Besucher störten die Abgeschiedenheit, niemand suchte an diesem Ort nach ihnen. Außerdem war das Gebäude, das ja für die Unheilbaren und Gemeingefährlichen errichtet wurde, vermutlich noch ausbruchsicherer als das übrige Hospital. Nur wenige und

Weitere Kostenlose Bücher