Gegen alle Zeit
sie entsetzt. »Verschwinde! Lass mich! Ich will nicht!«
»Nicht so laut!« Blueskin war von Bess’ Reaktion so überrascht, dass er für einen Augenblick das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte. Im letzten Moment konnte er sich an der Maueröffnung festhalten. Und erst dann begriff er, warum Bess so entsetzt und verstört reagiert hatte. Sie hielt Blueskin für tot und begraben und musste daher annehmen, dass sein Geist gekommen war, sie ins Reich der Toten zu holen. Dass Blueskin zudem draußen vor dem Fenster schwebte und Bess nur seine Stimme hörte, machte das Ganze für sie sicher noch unheimlicher.
»Nein, Bess, ich bin kein Geist«, versuchte er sie zu besänftigen. »Glaub mir, ich bin nicht tot! Nur ein wenig angesengt, aber ich lebe noch. Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist alles in Ordnung.«
Bess antwortete nichts, aber wenigstens schrie sie nicht mehr. Und schließlich fragte sie: »Wo bist du?«
»Hier draußen, vor dem Fenster.«
»Kannst du fliegen?« Die Frage war vermutlich nicht so lustig gemeint, wie sie in Blueskins Ohren klang.
»Ich hänge an einem Flaschenzug«, sagte er, und auch das klang ziemlich komisch. »Kannst du etwas näher kommen, damit ich nicht so laut reden muss?« Er hörte etwas rascheln und anschließend ein metallisches Klirren. Dann glaubte er eine Bewegung hinter der Scharte zu erkennen, und im nächsten Moment streckte Bess ihre Finger hinaus und bekam Blueskin an der nackten Brust zu fassen. Sofort zog sie die Hand wieder zurück. Erneut klirrte es metallisch.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte sie. »Pfui Teufel, warum stinkt das so? Du riechst, als kämst du direkt aus der Hölle.«
»Aus der Unterwelt, aber nicht aus der Hölle«, antwortete Blueskin ausweichend. »Wo steckt Henry? Ist er auch in diesem Neubau?«
»Er war mit mir in dieser Zelle eingesperrt, aber heute Mittag haben sie ihn weggeschafft.«
»Sie haben euch in eine gemeinsame Zelle gesteckt?«, wunderte sich Blueskin.
»Es ist die einzige fertiggestellte Zelle. Die anderen haben nicht einmal Türen. Der ganze Trakt ist eine Baustelle.« Bess lachte und setzte hinzu: »Außerdem konnten sie uns so besser bewachen. Und unsere Gespräche belauschen.«
»Stehen die Wärter jetzt vor der Tür?«, flüsterte Blueskin.
»Nein, die sind drüben im Haupthaus. Seitdem Henry nicht mehr hier ist, scheinen sie ihre Aufgabe nicht mehr ganz so ernst zu nehmen. Bin halt nur ’ne Frau und weiß von nichts. Oder sie kümmern sich um Henry.«
»Was ist mit ihm geschehen? Warum haben sie ihn fortgeschafft?«
»Er hat das Kerkerfieber bekommen, glaube ich, jedenfalls hat er seit gestern nur noch gekotzt und am ganzen Körper gezittert und wie irre geredet. Du kannst dir nicht vorstellen, was er für einen Unsinn gefaselt hat. Er käme aus der Zukunft, und dort würden die Leute durch die Luft fliegen. Lauter so ’n absurdes Zeug.« Sie lachte bitter und dann folgte ein langer Seufzer. »Keine Ahnung, was sie mit ihm gemacht haben. Vielleicht haben sie ihn auf die Krankenstation gebracht. Ich befürchte, es geht mit ihm zu Ende.«
»Weshalb halten sie euch hier fest?«, fragte Blueskin, der nicht zu erkennen geben wollte, dass ihn diese Nachricht betrübte. »Was will Mr. Wild von euch?«
Bess schwieg eine Weile, vermutlich weil sie Blueskin nach wie vor nicht über den Weg traute, doch dann sagte sie: »Einen Brief.«
»Einen Brief?«
»Das ist ’ne lange Geschichte. Mr. Wild scheint ihn zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser«, antwortete Bess. »Und er wird uns umbringen, egal ob wir ihm den Brief geben oder nicht. Ich begreife nichts von der ganzen Sache.« Sie stöhnte und setzte flehentlich hinzu: »Kannst du mich hier rausholen, Blueskin?«
»Deswegen bin ich hier«, antwortete er und erzählte ihr in wenigen Worten, auf welche Weise er ins Irrenhaus hineingelangt war und wie sie ihrerseits aus dem Irrenhaus herauskommen konnte. Als er geendet hatte, ohne dabei allzu sehr ins Detail gegangen zu sein, war er überrascht, dass Bess mit beharrlichem Schweigen antwortete.
»Hast du mich verstanden, Bess? Der Walbrook bringt euch nach draußen. Es ist ein Kinderspiel, weil vermutlich keiner der Wärter von dem unterirdischen Fluss weiß. Oder hast du etwa Angst vor dem Gestank?«
»Die Latrine ist nur für die Wärter von Bedlam«, antwortete Bess nach einer Weile. »Und für die gut betuchten Verrückten, die dafür ein Handgeld zahlen. Alle anderen bekommen einen Nachttopf
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