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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Stuart-Könige zurück. Erst vor wenigen Wochen hatte Henry im Theatre Royal die Aufführung des Musicals Shrek gesehen, frei nach dem gleichnamigen Hollywood-Zeichentrickfilm.
    Im Jahr 1724 allerdings verdankte die Drury Lane ihren weithin bekannten Ruf nicht dem königlichen Theater, sondern den zahlreichen Hurenhäusern, Kneipen, Wetthöhlen und zwielichtigen Gin-Palästen, die sich hier wie Perlen an einer Kette aneinanderreihten. Das gesamte Gebiet rund um St. Giles-in-the-Fields war ein einziger Slum, und die Drury Lane bildete gewissermaßen das Zentrum. Eine Hochburg des Lasters, des Verbrechens und des Alkoholexzesses. Henry erinnerte sich, dass die Große Pest des Jahres 1665 in der Drury Lane ihren Anfang genommen hatte, und bei seinen Recherchen zur Bettleroper war er immer wieder auf den zweifelhaften und berüchtigten Charakter dieser Straße gestoßen.
    Als er nun die dunkle Gasse betrat und die heruntergekommenen Häuser sah, deren schäbige und schiefe Fassaden oft nur durch Stützbalken zwischen den Häusern vor dem Einsturz bewahrt wurden, wurde es ihm mulmig zumute, und er verlangsamte seinen Schritt. Was für ein Kontrast zu der geschäftigen Atmosphäre der Fleet Street, die doch nur einen Steinwurf weit entfernt war. Der Putz bröckelte ringsum von den Wänden, die Fenster hatten keine Läden und waren meist mit Sacktuch verhangen, die hölzernen Schilder waren verwittert, der Dreck türmte sich in der Gosse, und auch die Menschen schienen hier von anderem Schlag zu sein. Nicht nur wegen der ärmlichen Kleidung, sondern auch wegen des verhärmten Gesichtsausdrucks. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber es kam ihm vor, als schauten ihn die Leute auf der Straße misstrauisch oder argwöhnisch an. Obwohl er in seiner fadenscheinigen und zerrissenen Kleidung nicht weiter auffiel, schienen sie den Fremden zu riechen und begegneten ihm mit einer Mischung aus Neugier und Ablehnung. Sie starrten ihn an und wandten sich dann ruckartig ab, als wäre er ein Aussätziger. Auffällig war ebenfalls, dass es hier keine Bettler und Schausteller auf der Straße gab. Wen hätten sie auch anbetteln oder wem etwas andrehen wollen? Hier wohnte ihresgleichen, zur Arbeit gingen sie in die feineren Gegenden, wo die Menschen sich ihr gutes Gewissen mit etwas Barmherzigkeit erkauften.
    Henry hielt Ausschau nach dem Black Lion Inn, doch weil es von Pubs und Tavernen nur so wimmelte und auf den Schildern oft kaum noch etwas zu erkennen war, wandte er sich an einen kleinen Jungen, der im Schneidersitz auf dem Pflaster saß und seine vor Dreck strotzenden Füße anstarrte, als wären sie ein erbaulicher Anblick.
    »Weißt du, wo ich das Black Lion finde?«
    »Ay, weiß ich«, antwortete der Junge, ohne aufzublicken.
    »Und verrätst du es mir?«
    »Habt es schon gefunden, Sir.«
    Henry verstand nicht und fragte: »Was heißt das?«
    Statt einer Antwort deutete der Junge mit einem Kopfnicken auf die gegenüberliegende Straßenseite.
    »In dem Durchgang da?«, fragte Henry.
    »Ay«, sagte der Junge, »beim Theater.«
    »Das Theatre Royal?«
    »Welches sonst?« Der Junge schaute Henry zum ersten Mal an und streckte ihm die offene Hand entgegen. »Gegenüber vom Friedhof von St. Mary, gleich neben dem Theater.« Er bleckte die Zähne und fügte hinzu: »Macht ’n Penny.«
    Henry lachte, zuckte bedauernd mit den Schultern und fuhr sich mit beiden Händen in die leeren Hosentaschen. Nur um sicherzugehen, klopfte er sich anschließend auf die Außentaschen seines Gehrocks und stellte erstaunt fest, dass es in der rechten Tasche klimperte. Er griff hinein und holte eine kleine Münze und einen Silberring heraus. Bei dem Geldstück handelte es sich um eine 20-Pence-Münze, die er dem Jungen achtlos in die Hand drückte. Der Ring war ein Solitär mit einem winzigen Brillanten, und als Henry ihn erblickte, stockte ihm der Atem. Diesen Ring hatte er Sarah zu ihrem zweiten Jahrestag geschenkt, auf der Innenseite war eingraviert: »In Liebe Henry«.
    »Was soll ’n das sein?«, mokierte sich der Junge und bestaunte das kleine Geldstück mit den sieben abgerundeten Ecken. »Hat da jemand was abgeknabbert? Und was ist ’n das für ’ne Königin? Soll das Queen Anne sein? Die hab ich ja noch nie gesehen.«
    »Elizabeth II.«, antwortete Henry gedankenverloren. Er wandte sich ab und betrachtete den Ring, der auf der Innenseite verschmutzt war, als hätte er im Schlamm gelegen. Als er den rostbräunlichen Dreck abkratzte, zwischen

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