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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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den Fingern zerrieb und daran schnupperte, kam es ihm vor, als röche es nach Blut. Aber das war vermutlich nur Einbildung. Seine Finger stanken derart nach Schweiß und Schmiere, dass es kaum möglich war, feinere Gerüche zu unterscheiden.
    »Verscheißern kann ich mich alleine«, schnauzte der Junge, steckte die unbekannte Münze aber dennoch ein, senkte den Kopf und starrte wieder auf seine Füße, als hätte er nie etwas anderes getan.
    Henry betrat den schmalen Durchgang auf der anderen Straßenseite, der laut einem Holzschild Vinegar Yard hieß, und lief durch die dunkle Passage, ohne wirklich auf die Umgebung zu achten. Er versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, wann Sarah ihm den Ring zurückgegeben hatte. Er hatte keine Ahnung. Direkt nach der Theateraufführung hatte er nicht mit ihr gesprochen, so viel wusste er noch. Zu schockiert und entsetzt war er gewesen, um sie auf das anzusprechen, was er hinter der Bühne gesehen hatte. Und als Sarah wenig später Arm in Arm mit ihrem selbstgefällig grinsenden Sean bei der Premierenfeier erschien, hatte Henry sich bereits derart betrunken, dass er Sarah eine peinliche Szene machte, woraufhin sie das Rosemary Lane umgehend in der Begleitung ihres neuen Freundes verließ. So weit Henrys Erinnerung. Der Solitär tauchte darin nicht auf. Aber nun hielt er ihn in der Hand, wie das Symbol seiner Schmach: »In Liebe Henry.«
    Er steckte den Ring wieder ein, zuckte mit den Schultern und schaute sich um. Der düstere Vinegar Yard führte zu einem kleinen, ringsum bebauten Platz, der offensichtlich nicht als solcher geplant gewesen war, sondern dadurch entstanden war, dass an dieser Stelle die Rückseiten mehrerer Gebäude oder Gemäuer aufeinanderstießen. Auf der linken Seite sah Henry eine mannshohe Mauer aus Backstein, hinter der mehrere Steinkreuze oder Statuen in die Höhe ragten. Das spitze Türmchen einer Kapelle war ebenfalls zu erkennen. Dies musste der Friedhof sein, von dem der Junge gesprochen hatte. Zur Rechten führte eine weitere Passage unter Balkonen und Erkern zum Eingang des Theatre Royal. Von dem eigentlichen Theatergebäude war jedoch nur das Dach zu sehen, weil es von anderen Häusern und Gemäuern wie umzingelt war. Ein kleines Schild in Pfeilform war mit den Worten »Galerie & Loge« beschriftet. Darunter hing ein großformatiges Plakat, das auf die nächste Vorstellung hinwies:
    COLLEY CIBBER
    präsentiert
    BARTON BOOTH
    in
    »THE ROVER«
    von
    APHRA BEHN
    Drei berühmte Namen des klassischen englischen Theaters auf einem einzigen Plakat! Wie gern hätte Henry sich die abendliche Vorstellung angeschaut, doch für Theater hatte er im Augenblick weder Zeit noch Muße.
    Geradeaus am Platz, zwischen Friedhof und Theater, befanden sich mehrere Wohnhäuser und kleinere Ställe, doch ein Schild mit der Aufschrift The Black Lion suchte Henry vergebens. Vielleicht befand sich der Eingang auf der rückwärts gelegenen Seite. Er wollte bereits wieder kehrtmachen, als er links neben dem Theatereingang einen winzigen Durchlass erkannte, der ebenfalls mit einem Pfeilschild versehen war. »Parkett« stand darauf. Offensichtlich gab es getrennte Eingänge für die teuren und die billigen Plätze. Der Durchlass führte zu einer Sackgasse, die an einer hohen und fensterlosen Mauer aus Sandstein endete. Dies musste das Theatergebäude sein. Neben einer niedrigen Holztür hing ein weiteres, allerdings etwas kleineres Plakat zu dem Stück The Rover . Kaum zu glauben, dass hinter dieser unscheinbaren Tür englische Theatergeschichte geschrieben wurde.
    »Da bist du ja!«, wurde Henry durch eine knarrende Jungmännerstimme aus seinen Gedanken gerissen. »Wir dachten schon, sie hätten dich auch geschnappt.«
    Als Henry sich umwandte, sah er George vor einem Kellereingang stehen, die Biberfellmütze in der einen und eine qualmende Pfeife in der anderen Hand. Der Eingang gehörte zu einem schmalen, nach oben hin vorkragenden Fachwerkhaus, dessen ehemals weiß getünchte Wände inzwischen von einem schmutzigen Graubraun waren und dessen Fenster allesamt mit Holzläden oder Brettern verrammelt waren. Erst jetzt fiel Henry das kleine Messingschild am Erker des Hauses auf, auf dem ein brüllender Löwe mit erhobener Pranke abgebildet war.
    Henry wunderte sich, dass sich die Bande des Jack Sheppard, nach der vermutlich bereits sämtliche Konstabler und Wachmänner Londons fahndeten, ausgerechnet am Ende einer Sackgasse traf. Aber vermutlich befand sich der Haupteingang zu der

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