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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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jedes Mal, wenn er dieses karge und kaum möblierte Zimmer betrat. Denn dies war der Ort, an dem Hope den zahlungswilligen Lüstlingen »zugänglich« gemacht worden war und ihre panische Angst vor Dunkelheit entwickelt hatte. Da manchen Kunden der Anblick des schwachsinnigen Mädchens zuwider gewesen war, hatte Blueskins Mutter das Fenster zum Hof zumauern lassen und sämtliche Kerzen gelöscht, sodass sich die Männer an Hope vergehen konnten, ohne durch ihr absonderliches Äußeres abgestoßen zu werden. Blueskin hasste den »Schrank« und hätte ihn am liebsten, samt Haus und Remise, niedergebrannt. Mit seiner Mutter als lebendem Inventar.
    Schnell tastete er sich durch den völlig finsteren Raum, öffnete die Tür, schob den Kleiderschrank zur Seite und wartete im spärlich beleuchteten Korridor darauf, dass seine Mutter auf dem Weg von der Stube ins ebenfalls bewirtete Obergeschoss hier vorbeikäme. Er musste nicht lange warten, bis sich ein Windlicht aus der Richtung der Wohnstube näherte. Seine Mutter hielt einen Bottich in der Hand und ging am Schrank vorbei zur Stiege. Blueskin fasste sie an der Schulter und zog sie mit einer raschen Bewegung ins Separee.
    »Was, zum Henker!«, fluchte Mutter Blake und hätte beinahe das Windlicht fallen gelassen. Als sie ihren Sohn erkannte, zischte sie: »Du!« Sie stellte den Bottich, der bis zum Rand mit Gin gefüllt war, auf den Boden und fragte: »Was willst du denn hier?«
    »Freust dich ja ungemein, mich zu sehen«, höhnte Blueskin und schob den Schrank wieder vor die Öffnung. »Scheinst sehr um mich getrauert zu haben.«
    »Was hast du nur wieder angestellt, Joseph?«, fragte seine Mutter und schüttelte so heftig den Kopf, als beklage sie das gesamte Unrecht dieser Welt. »Mr. Wilds Männer waren am Nachmittag da und haben nach dir gefragt. Mal bist du tot, dann wieder nicht. Man weiß ja gar nicht mehr, was man denken soll.«
    »Hat dich mein Tod so sehr aus der Fassung gebracht?«, brummte Blueskin, der sich seine wahren Gefühle nicht anmerken lassen wollte. »Der Freitag muss ja schrecklich für dich gewesen sein.«
    »Freitag?«, stutzte seine Mutter. »Wieso?«
    »Meine Beerdigung«, erklärte Blueskin. »Du warst doch vermutlich am Grab.«
    »Sicher, mein Junge, sicher«, murmelte Mutter Blake, presste die Lippen aufeinander und nickte voller Trauer und Leid. »Es ist nicht schön für eine Mutter, das eigene Kind zu Grabe zu tragen. Es bricht einem das Herz. Du hättest dich ruhig melden können, um mich zu schonen. All die bitteren Tränen, ganz umsonst. Mir stockt jetzt noch der Atem.«
    Blueskin hätte ihr am liebsten ins Gesicht gespuckt, doch er schluckte seine Wut hinunter und sagte: »Na, nun bin ich ja wieder da. Und Hope ist in Bedlam. Ihr geht’s gut. Das freut dich sicherlich.«
    »Der irre Geoff hat’s mir gesagt«, antwortete seine Mutter und wich seinem Blick aus. »Nichts als Sorgen um die Kinder. Man könnte den ganzen Tag heulen, wenn’s denn was bringen würde. Aber es nützt ja nichts.«
    »Schon gut«, unterbrach Blueskin sie und klopfte ihr wie einem wehleidigen Kind aufmunternd auf die Schulter. »Jetzt wird alles gut. Alle leben und sind putzmunter, kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Und zur Feier des Tages wird Jack herkommen und mit uns anstoßen.«
    »Jack?« Sofort leuchteten Mutter Blakes Augen, und ihre Mundwinkel gingen nach oben. »Der brave Junge. Er ist so ein Schatz.«
    »Leider muss ich vorher noch mal kurz fort«, knurrte Blueskin und nahm das Kinn seiner Mutter in die Hand, damit sie ihn direkt anblickte. »Sag Jack bitte, dass ich um Mitternacht wieder da bin. Mit dem Brief. Er soll auf mich warten.«
    Seine Mutter starrte ihn verständnislos an, und deshalb wiederholte er alles noch einmal Wort für Wort und fragte dann: »Wirst du ihm das ausrichten?«
    »Um Mitternacht. Mit dem Brief. Jack soll warten«, sagte Mutter Blake und nickte. Dann lächelte sie und seufzte wehmütig: »Der gute Junge!«
    So hatte sie Blueskin noch nie genannt, jedenfalls nicht in seinem Beisein. Doch das konnte er verschmerzen. Die Vorstellung, von seiner Mutter geliebt oder auch nur geachtet zu werden, erschien ihm völlig absurd. Da die Verachtung also gegenseitig war, hatte er keinen Grund, seiner Mutter böse zu sein.
    »Bis später!«, verabschiedete er sich knapp, schob den Wandteppich zur Seite und verließ den »Schrank« durch den Geheimgang.
    »Aber wasch dich vorher!«, rief sie ihm nach. »Du stinkst wie ein

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