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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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bedruckten Folio-Papier zu lesen war. Das Blatt war also drei Tage alt, und der Grund, warum es immer noch hier herumlag, stach Blueskin sofort ins Auge. Der Name, an dem er haften blieb, war ihm mehr als geläufig: Jack Sheppard.
    In einer viertelseitigen Anzeige wurde eine Belohnung auf die Ergreifung oder Entdeckung des flüchtigen Räubers ausgesetzt. Zwanzig Guinees wurden demjenigen versprochen, der die Ordnungshüter auf Jacks Spur brachte. Anschließend wurde Jack wie folgt beschrieben: »Er ist etwa 23 Jahre alt und 5 Fuß, 4 Zoll groß, sehr schlank, von bleicher Gesichtsfarbe, hat einen Sprachfehler und ist Schreiner von Beruf.« Der Text endete mit den Worten: »Mitteilungen an Mr. William Pitt, Hauptwärter des Newgate-Gefängnisses.«
    Bemerkenswert an dieser Anzeige war nicht nur die beachtliche Höhe der Belohnung, die etwa dem dreifachen Jahreseinkommen eines Hausdieners entsprach, sondern auch die Tatsache, dass Mr. Pitt selbst die Anzeige aufgegeben und die Suche somit nicht ausschließlich in Mr. Wilds Hände gegeben hatte. Vermutlich hatte sich der Kerkermeister von Newgate durch die aberwitzige Flucht seines Gefangenen derart gedemütigt gefühlt, dass er nun höchstpersönlich alle Hebel in Bewegung setzte, des Flüchtigen wieder habhaft zu werden. Nur eine Woche vor Jack war bereits einem anderen Häftling die Flucht aus Newgate gelungen, und wahrscheinlich hatte Mr. Pitt von den Stadtoberen, von denen er das Amt des Hauptwärters erworben hatte, eine Standpauke zu hören bekommen.
    Offenkundig hatte Jack sich in Mr. Pitt einen persönlichen Feind geschaffen. Und das kam Blueskin sehr gelegen, denn es verschaffte ihm ungeahnte und unverhoffte Möglichkeiten. Er legte die Zeitung wieder beiseite und wollte die Schänke verlassen, wurde jedoch von Mr. Hynd zurückgehalten.
    »Warum so eilig? Trink doch noch einen mit mir!«, rief der Wirt und hielt ihm einen weiteren Humpen vor die Nase. »Geht aufs Haus. Wir wollen deine Auferweckung begießen und auf das Seelenheil des armen Teufels anstoßen, der nun verkohlt in deinem Grab liegt.«
    »Nichts für ungut, Mr. Hynd.« Blueskin lachte und winkte mit der Hand ab. »Richtet Mr. Wild aus, dass er sich noch etwas gedulden muss, bevor er mich an den Galgen knüpfen darf. Immer hübsch der Reihe nach.«
    »Mr. Wild?«, gab sich der Wirt entrüstet. »Was hab ich denn mit dem zu schaffen? Willst du mich beleidigen?«
    Blueskin grinste spöttisch und deutete auf die Zeitung. »Braucht Ihr die noch?«
    Mr. Hynd machte eine mürrische Miene und schüttelte den Kopf.
    Blueskin nahm die Zeitung, setzte den Hut auf und empfahl sich.
    Als er draußen auf der Straße war, schaute er über die Schulter zum Giebelfenster hinauf und glaubte hinter der Scheibe ein weiß geschminktes Frauengesicht zu erkennen. Er wandte sich ruckartig ab, zog den Schlapphut tief in die Stirn und beeilte sich, zum Coal Yard zu kommen, bevor Mr. Wilds Männer erschienen. Bis zum Sonnenuntergang hatte er noch einiges zu erledigen.

10

    Das Wiedersehen mit seiner Mutter war ein äußerst denkwürdiges und sonderbares. Am frühen Abend, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang, betrat Blueskin das Haus in der Rosemary Lane durch den geheimen Hintereingang. Drei Eingänge besaß der Gin-Shop: die offizielle Haustür zu ebener Erde, den niedrigen Nebeneingang zum Kellergelass und einen weiteren, der vom rückwärtigen Hof und über eine Remise direkt in den »Schrank« führte. So nannte Mutter Blake das gesonderte Zimmer, das nur für besondere Gäste und Anlässe gedacht und dessen Tür zum Korridor hinter einem großen Schrank versteckt war. Ein weiterer Zugang zum »Schrank« befand sich hinter einem Teppich an der Wand, und von hier aus gelangte man durch eine schmale Luke zur angrenzenden Remise im Hof. Mutter Blake hatte diesen Geheimgang ersonnen, um den erlauchten Gästen im Separee die unbemerkte Flucht zu ermöglichen, falls es zu einer Razzia durch Mr. Wilds Leute, die Konstabler oder einen Gefängnis-Suchtrupp kam. Da sich dieser Hintereingang mit den Jahren bis zu Mr. Wild und seinen Diebesfängern herumgesprochen hatte, hatte er seine Funktion als Fluchtweg weitestgehend eingebüßt. Doch er bot Blueskin an diesem Montagabend zumindest die Möglichkeit, das Haus seiner Mutter zu betreten, ohne den Gästen in der Stube zu begegnen.
    Als er den dicken Wandteppich zur Seite schob und in den »Schrank« kletterte, bekam er Beklemmungen in der Brust, wie beinahe

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