Gegen alle Zeit
Bess, ließ sich langsam auf den Strohsack sinken und versuchte notdürftig, ihr zerrissenes Mieder und das Oberkleid zu richten.
Henry nickte traurig und schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das der Grund ist, warum Mr. Wild dich hier gefangen hält. Und mich obendrein. Er will etwas Bestimmtes von uns, sonst hätte er uns längst umgebracht. Das ist auch der Grund, warum er dich in den Beichtstuhl in der Chick Lane gebracht hat. Hast du eine Ahnung, worauf er es abgesehen hat?«
»Wir werden es bald erfahren«, antwortete Bess, hob die Schultern und schloss die Augen. Es hatte den Anschein, als hätte sie jeden Lebenswillen und jeden Mut zur Gegenwehr verloren. Henry hockte sich neben sie auf den Boden und griff nach ihrer Hand. Zunächst wollte sie ihm die Hand entziehen, doch dann ließ sie es zu und streichelte ihrerseits mit der anderen Hand über Henrys Unterarm.
»Wir kommen hier wieder raus!«, sagte Henry und merkte selbst, wie schal und halbherzig seine Worte klangen.
»Sicher«, antwortete Bess und atmete tief aus. Im nächsten Moment erschlaffte ihre Hand, und ein leises Gurgeln aus ihrer Kehle verriet, dass sie eingeschlafen war. Er führte ihre Hand an seine Lippen und küsste sie zärtlich. Bess seufzte wohlig im Schlaf. Dann schloss auch Henry die Augen.
»Gott verdamm mich!«, rief Bernie im Vorraum und knallte zornig die Karten auf den Tisch. »Wasch dir die Pfoten, bevor du gibst. Was für Dreckskarten!«
2
Francis Atterbury! Der Bischof von Rochester war der Schlüssel zu Mr. Wilds Geheimnis. Er war der Grund, warum Bess’ Ehemann Matthew und ihr Liebhaber Albrecht hatten sterben müssen. Während Henry rücklings neben Bess auf dem Boden lag und zur Decke starrte, die in der Dunkelheit gar nicht zu erkennen war, war er sich sicher, dass die Jakobiten hinter allem steckten. Bess schnarchte mittlerweile so laut, dass an Schlaf nicht zu denken war, doch Henry wollte sie nicht wecken, hielt weiterhin ihre Hand und streichelte ihren Unterarm. Obwohl es kalt in der Zelle war, schwitzte er, doch gleichzeitig hatte er eine Gänsehaut, und Schauer fuhren ihm über die bloßen Arme. Er grübelte angestrengt und hatte Mühe, seine Gedanken zu sortieren.
Matthew Lyon, der Küster von Whitchurch, war ins Little Stanmore Inn gegangen, um den Liebhaber seiner Frau zur Rede zu stellen, und hatte dort etwas beobachtet, das ihm zum Verhängnis geworden war. Etwas oder jemanden. Den Bischof und seine jakobitischen Mitverschwörer vielleicht? Als Küster des Sprengels von Cannons House war er dem Bischof vermutlich mehrmals über den Weg gelaufen und hätte ihn erkannt, wenn er ihn in illustrer Runde beim Planen eines Königsmordes ertappt hätte. Das hatte ihn das Leben gekostet. Und ihn um ein Begräbnis in geweihter Erde gebracht.
Henry ärgerte sich, dass er sich nur in sehr groben Zügen an die missglückte Atterbury-Verschwörung von 1721 oder 1722 erinnerte. Die Jakobiten hatten so oft und stets erfolglos versucht, James Francis Edward, den Sohn des letzten Stuart-Königs, auf den englischen Thron zu befördern, dass es schwerfiel, den Überblick zu behalten. Wenn Henry sich recht erinnerte, dann hatte Bischof Atterbury nicht nur potente Geldgeber und militärische Ratgeber aus dem Ausland hinter sich gehabt, sondern er hatte auch eine schlagkräftige Truppe von Unterstützern im Inland für seine Sache geworben. Und diese Sache hieß: Den deutschen König George gefangen zu nehmen und den rechtmäßigen Stuart-König, den sie James III. nannten, auf den Thron zu hieven.
Die durchaus vielversprechende und bereits weit gediehene Verschwörung flog jedoch überraschend auf, Atterbury und weitere Anführer wurden verhaftet und einige Zeit im Tower gefangen gehalten. Später konnte der Bischof von Rochester nach Frankreich fliehen, oder er wurde vom König dorthin verbannt, so genau wusste Henry das nicht mehr, und wenn er sich recht entsann, war der Bischof viele Jahre später im französischen Exil gestorben und hatte nie wieder englischen Boden betreten.
Das Seltsame an der ganzen Angelegenheit war jedoch, dass keiner der namentlich bekannten Verschwörer zum Tode oder auch nur zu einer längeren Haftstrafe verurteilt worden war. Ausführliche Listen der Verschwörer waren bei den verhafteten Jakobiten gefunden worden, wurden aber schlichtweg ignoriert. Vermutlich waren so viele hochrangige Persönlichkeiten an dem sogenannten »Atterbury-Plot« beteiligt gewesen, dass man es
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