Gegen alle Zeit
die Gittertüren, die noch in die Öffnungen eingefügt werden mussten. Durch schmale Scharten an den Seiten fiel nur wenig Tageslicht ins Innere. Henry versuchte vergeblich, am Stand der Sonne zu erkennen, welche Tageszeit es war.
Das dritte Obergeschoss unterschied sich merklich von den beiden anderen. Zwar befand es sich ebenfalls noch im Bau, wie die vielen türlosen Öffnungen in den Wänden bewiesen, doch es lagen keine Werkzeuge herum, keine Bretter oder Steine waren zu sehen, und am Ende des Gangs war eine fertige Zelle mit eingefasster Gittertür zu erkennen. Davor stand ein Tisch mit einem brennenden Windlicht darauf.
»Ihr steckt uns gemeinsam in eine Zelle?«, wunderte sich Bess.
»Brauchst du ein Privatgemach?«, schnaufte der Wärter Bernie.
»Wir würden uns niemals trauen, euch Turteltäubchen zu trennen«, fügte sein Kollege hinzu. »Aber kommt bloß nicht auf dumme Gedanken! Durchs Gitter sehen wir alles.« Er lachte dreckig und stieß Bernie an.
»Sollen sie ruhig übereinander herfallen, Seamus«, meinte Bernie. »Dann haben wir wenigstens unseren Spaß.«
Henry und Bess wurden in die winzige Zelle geführt und von Kopf bis Fuß abgetastet. Bess ließ alles regungslos und ohne Gegenwehr über sich ergehen, auch als Seamus ihr unter den Rock griff und dort länger als nötig verweilte. Sie hatte unlängst noch Schlimmeres erlebt. Henry jedoch trat reflexartig nach Bernie, als dieser ihm grinsend zwischen die Beine fasste. Sofort fielen beide Wärter über ihn her und traktieren ihn mit Schlägen und Tritten. Sie drückten ihn gemeinsam zu Boden, quetschten ihm mit ihren Knien die Rippen und durchsuchten seine Kleidung. Als Bernie den Brillantring in seiner Jacke entdeckte, pfiff er leise durch die Zähne und ließ das Schmuckstück blitzschnell in seiner Hosentasche verschwinden. Mit einem Seitenblick auf seinen Kollegen vergewisserte er sich, dass Seamus es nicht bemerkt hatte.
»Was haben wir denn hier?«, rief dieser plötzlich und hielt Henrys Smartphone in die Höhe. »Hast wohl gedacht, du kannst das in die Zelle schmuggeln.«
»Was soll denn das sein?«, wunderte sich Bernie. »Ein Spiegel?«
»Es ist nichts«, antwortete Henry, der sein nutzlos gewordenes Mobiltelefon völlig vergessen hatte. »Nur ein Andenken.«
»Na, dann«, meinte Seamus, warf das Gerät zu Boden und trat mit den Füßen darauf, bis es knirschte und knackte und in viele Einzelteile zerbrach.
»So was hab ich ja noch nie gesehen«, knurrte Bernie und betrachtete eine winzige grüne Platine im Schein des Windlichts, das er auf dem Boden abgestellt hatte. Dann hielt er den Akku vor die Kerze und bestaunte das fluoreszierende Hologramm. »Was ist denn das für ein Teufelszeug?«
»Würdest es eh nicht verstehen«, sagte Henry und bekam als Antwort einen Tritt in die Seite.
Die Wärter sammelten die Einzelteile des Handys vom Boden, nahmen Henry und Bess die Handfesseln ab, ließen jedoch die Fußeisen angelegt und gingen hinaus. Die Gittertür fiel ins Schloss, und Seamus und Bernie setzten sich im Vorraum an den Tisch, wo ein Kartenspiel auf sie wartete.
»Du gibst«, sagte Seamus.
Henry starrte auf die Stelle, an der sein Smartphone gelegen hatte, und glaubte neben einigen Glasscherben und Plastikteilchen die kleine Speicherkarte zu erkennen, die aus dem Gehäuse gefallen und von den Wärtern übersehen worden war. Er nahm den winzigen Chip in die Hand und betrachtete ihn wie ein Ding aus einer anderen Welt. Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte er alles für diese Speicherkarte gegeben, sein gesamtes Leben befand sich darauf, alle Freunde und Bekannten, alle beruflichen Kontakte und Adressen, sämtliche Termine sowie die Musik, die er liebte. Das alles bedeutete ihm nun wenig, und er überlegte, ob er den Chip wegwerfen sollte. Er würde Henry vermutlich ohnehin nie wieder von Nutzen sein. Doch dann steckte er die Karte in die Hosentasche, rappelte sich unter Schmerzen in der Brust auf und sah sich in dem kargen Raum um, der durch eine schmale Öffnung in der Mauer nur unmerklich mit Tageslicht versorgt wurde. Ein Strohsack lag in der Ecke auf dem Boden, ein Nachttopf stand daneben, davon abgesehen war die Zelle leer. Keine Waschschüssel, kein Hocker, kein Tisch. Nichts.
»Was, zum Teufel, wollen sie von uns?«, murmelte er und schaute zum schmalen Fenster hinaus. Draußen schien es zu dämmern. Der Himmel war violett gefärbt.
»Was sie von mir wollen, haben sie schon zu erkennen gegeben«, sagte
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