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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Leben eine Zigarette geraucht.
    Ja, Henry war gut in Krankheiten. Und das kam ihm jetzt zugute. Ebenso wie der Umstand, dass er tatsächlich Fieber hatte und sein Kranksein nur zum Teil vorgaukeln musste. Zwar fühlte er sich schlecht, weil er Bess ein derartiges Schauspiel bot und sie sich offenkundig Sorgen um ihn machte, doch wenn es ihm tatsächlich gelänge, aus dieser Zelle herauszukommen und auf die Krankenstation verlegt zu werden, dann heiligte der Zweck jedes Mittel. Wenn es denn überhaupt eine Krankenstation in Bedlam gab.
    Die halbe Nacht wälzte sich Henry auf seinem Lager, während Bess ihn wie ein Kind wiegte, ihm Schlaflieder oder Kinderreime vortrug und dabei mit der eigenen Müdigkeit kämpfte. Mehrmals forderte Henry sie im vermeintlichen Halbdelirium auf, sich endlich schlafen zu legen, doch Bess wollte davon nichts hören und ließ stets ein weiteres »Cock a doodle do!« folgen. Henry liebte es, Bess’ hauchende Reibeisenstimme zu hören und dabei ihre Hand auf seinem Gesicht zu spüren, auch wenn er sich dabei wie ein Schuft vorkam. Weil ihm immer mehr bewusst wurde, wie sehr er diese derbe und grobschlächtige und gleichzeitig so herzliche und feinfühlige Frau liebte. Gegen jede Vernunft.
    Schließlich war es der Nachtwärter Bernie, der dem Singen und Trösten ein Ende bereitete. »Noch ein verdammtes London Bridge is broken down «, rief er aufgeregt von draußen, »und ich verpass dir ’nen Knebel! Und wenn der Kerl nicht bald mit seinem Stöhnen und Ächzen aufhört, kriegt er auch sein Maul gestopft! Ist ja nicht zum Aushalten!«
    »Wie im Irrenhaus, was, Bernie?«, lachte seine Kollege Seamus.
    »Leck mich!«
    Wie durch ein Wunder wurde Henry schlagartig ruhig und verfiel in eine Totenstarre. Das Seufzen und Wimmern hatte seinen Zweck erfüllt, die Wärter würden Mr. Wild am nächsten Morgen Bericht erstatten, eine weitere Probe seines schauspielerischen Könnens war nicht nötig. Zeit für den Vorhang.
    Nur wenig später war Bess eingeschlafen, und die Wärter sollten es bald bereuen, ihr wohltuendes Säuseln unterbrochen zu haben. Das unweigerlich einsetzende und ohrenbetäubende Schnarchen hätte die London Bridge tatsächlich zum Einsturz bringen können.
    Zu großes Gaumensegel, vermutete Henry, bevor auch er einschlief.
    Am nächsten Morgen, es war inzwischen der siebte Tag seiner Zeitreise, nahm Henry die Inszenierung des Eingebildeten Kranken wieder auf und intensivierte sie sogar. Er schlug wie rasend um sich, wobei er allerdings darauf achtete, Bess nicht versehentlich mit den Ketten zu treffen. Er strampelte mit den Beinen und röchelte, als bekäme er keine Luft. Dabei hatten die Symptome des realen Fiebers merklich nachgelassen, keine Schauer mehr, kein Frösteln, kein Zittern. Nur hämmernde Kopfschmerzen und ein leichtes Unwohlsein, kombiniert mit Hunger und Durst. Doch das machte Henry durch sein Schauspiel mehr als wett, wie er an Bess’ verstörtem und zunehmend panischem Gesichtsausdruck erkannte. Und als schließlich der Diebesfänger erschien und den Kranken in Augenschein nahm, schien allen Anwesenden klar zu sein, dass es mit Henry zu Ende ging.
    Mr. Wild kam diesmal allein, ließ sich von Bernie und Seamus auf den Stand der Dinge bringen und betrat grußlos die Zelle, wo er sich breitbeinig vor der Schlafstatt in der Ecke aufstellte.
    »Also?«, fragte er. »Wie lautet die Antwort?«
    »Henry ist krank«, sagte Bess. »Das seht Ihr doch.«
    »Pech für ihn.«
    »Er wird sterben, wenn Ihr nichts unternehmt.«
    »Zu schade«, höhnte Mr. Wild. »Soll ich jetzt weinen?«
    »Ich werd ihn Euch nicht geben«, murmelte Henry wie abwesend.
    »Was war das?«, fragte Mr. Wild.
    »Ihr kriegt … den Brief … nicht von mir«, wisperte Henry und hatte das Gefühl, das Stottern etwas übertrieben zu haben. Darum setzte er leise, aber deutlich nach: »Lieber sterbe ich.«
    Mr. Wild sah zunächst erstaunt Henry und dann fragend Bess an.
    »Er redet wirres Zeug«, sagte Bess entschuldigend.
    »Nein, ich geb ihn nicht her«, beharrte Henry und fuchtelte trotz der Handschellen in der Luft herum, als müsste er sich gegen einen unsichtbaren Angreifer zur Wehr setzen.
    »Er weiß also, wo der Brief ist?«, fragte der Diebesfänger.
    »Er behauptet es«, meinte Bess kopfschüttelnd und versuchte Henry zu beruhigen. »Er redet im Fieber und weiß nicht, was er sagt.«
    »Natürlich kenn ich Albrecht«, lachte Henry plötzlich und wand sich aus Bess’ Umarmung. »Woher

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