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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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gelesen«, sagte sie ironisch, ohne dabei das Gesicht zu verziehen.
    »Nicht in Büchern«, antwortete er, »sondern in einem Brief.«
    Bess schüttelte den Kopf, doch ihrem Blick konnte Henry entnehmen, dass sie nicht mehr felsenfest davon überzeugt war, dass er irre sprach. Dennoch sagte sie: »Du hast Fieber, Henry. Ruh dich aus.« Und damit drückte sie seinen Kopf zurück in ihren Schoß und fuhr ihm beruhigend mit den Fingern über die Stirn.
    »Mir ist kalt«, wisperte er und schüttelte sich. Und damit begann das Schauspiel, auch wenn daran noch nicht einmal alles erfunden war. »Halt mich fest, Bess!«
    »Ach, wie niedlich!«, ertönte von der Gittertür die Stimme eines Wärters, die Henry unbekannt vorkam. Vermutlich die Tagschicht.
    »Er ist krank!«, schnauzte Bess ihn an. »Er hat das Kerkerfieber und braucht Wasser, sonst verbrennt er innerlich.«
    »Kerkerfieber? Papperlapapp!«, antwortete der Wärter. »Ihr seid doch erst seit gestern hier. So schnell kriegt man das fleckige Fieber nicht.«
    »Er zittert am ganzen Körper«, beharrte Bess. »Siehst du das nicht?«
    »Dann soll er sich warme Gedanken machen«, lachte der zweite Wärter. »Mr. Wild hat gesagt, kein Wasser. Und dabei bleibt’s! Sonst kriegen wir Ärger.«
    »Und wenn er stirbt, bevor er Mr. Wild gesagt hat, was er weiß?«, fragte Bess. »Dann bekommt ihr erst recht Ärger.«
    »Ach was!«, entgegnete der andere Wärter. »Das macht gefälligst mit Mr. Wild aus.« Aber es klang nicht mehr ganz so abweisend und überzeugt.
    Wunderbare Bess!, dachte Henry und bemühte sich, nicht zufrieden zu grinsen. Sie machte ihre Sache hervorragend, auch wenn sie gar nicht wusste, dass sie Teil eines Plans war. Er stöhnte laut auf, zerrte an den Fesseln und wand sich hin und her, als zerrisse es ihn innerlich. Und als Bess ihr Gesicht an das seine schmiegte und es mit Küssen bedeckte, hatte er nicht einmal ein schlechtes Gewissen.
    »Bleib bei mir, Liebster!«, sagte sie.
    Henry flüsterte ihr ins Ohr: »Ich liebe dich, Bess.«
    »Erzähl mir was Neues«, antwortete sie und lächelte.
    »Na, meinetwegen«, erklang es in diesem Augenblick von der Gittertür. »Aber nur einen Schluck! Und kein Wort zu Mr. Wild.«
    Die Tür wurde geöffnet, und der Wärter erschien mit einem Krug in der Hand. Für einen Augenblick überlegte Henry, ob er die Gelegenheit nutzen und türmen sollte, doch dann verwarf er den Gedanken. Er war an Händen und Füßen gefesselt, und vor der Tür wartete der zweite Wärter. Selbst wenn er es durch den Vorraum und bis zur Treppe schaffte, hätten sie ihn in null Komma nichts wieder eingeholt. Nein, nur nichts überstürzen! Also ließ er sich einen Schluck Wasser in den Mund träufeln, schluckte ihn, wand sich plötzlich, steckte blitzschnell den Finger in den Mund und erbrach dem verdutzten Wärter das Wasser vor die Füße, wobei er würgende Geräusche von sich gab, als ginge ihm die Galle über.
    »Verflucht!«, schrie der Mann und sprang zurück. »Verdammte Schweinerei!« Er ging zurück in den Vorraum und schloss die Tür. Den Krug hatte er vor Schreck in der Zelle stehen lassen.
    »Sollen wir Bescheid geben?«, fragte der andere Wärter.
    »Bald kommt die Nachtschicht«, erwiderte der Erste. »Sollen die entscheiden, was zu tun ist. Oder Mr. Wild, wenn er morgen früh hier auftaucht.«
    Zufrieden hörte Henry das Gluckern des Wassers, als Bess sich den Krug an die Lippen hielt. Dann winselte und wimmerte er, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen.

4

    Henry war gut in Krankheiten. Sarah hatte immer gescherzt, Molière habe beim Schreiben von Der eingebildete Kranke vermutlich einen Hypochonder wie Henry vor Augen gehabt, niemand sonst sei so gern und so inbrünstig krank wie er. Jedes Wehwehchen werde gleich zu einem Notfall, jeder Pickel zu einem Geschwür, jeder Schnupfen zur Spanischen Grippe. Henry hatte darauf stets geantwortet, er sei kein Hypochonder, sondern ein Simulant. Das sei ein kleiner, aber wesentlicher Unterschied.
    Schon während seiner Schulzeit hatte er ein erstaunliches Talent entwickelt, seiner Mutter weiszumachen, er sei krank und könne nicht zum Unterricht gehen. Frühmorgendliche und entsprechend unangenehm riechende Spucke wurde mit Fleiß in den Händen und auf der Stirn verrieben, Hyperventilieren mit gleichzeitigem Muskelkrampfen führte zu einem hochroten Kopf und äußerlicher Erhitzung, und sein Reizhusten klang wie der eines Kettenrauchers. Dabei hatte er nie in seinem

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