Gegen alle Zeit
Henry. »In dem Lambeth, aus dem ich komme, gibt es schon lange kein Marschland mehr. Nur eine kleine Straße, die so heißt. Direkt neben dem Bahnhof Waterloo und ganz in der Nähe eines Riesenrads, das größer ist als Big Ben.«
»Was denn für ein Ben?«
»Richtig, den gibt’s ja noch gar nicht.« Henry fuhr sich über die Bartstoppeln, kratzte das getrocknete Blut ab und suchte nach Worten, die erklären konnten, was eigentlich nicht zu erklären war. Seine Gedanken verhedderten sich zusehends, und er entschied sich schließlich für den direkten Weg, für die Wahrheit: »Ich komme aus der Zukunft, Bess. Ich weiß nicht, wie und weshalb es mich hierher verschlagen hat und ob ich jemals wieder zurückkehren kann, aber ich komme aus dem 21. Jahrhundert.«
Statt einer Antwort lachte Bess laut und erschrocken auf.
»Erzählst du uns auch den Witz?«, rief Bernie aus dem Vorraum. »Damit wir mitlachen können.«
»Darf auch ruhig versaut sein«, kommentierte sein Wärterkollege.
Henry legte Bess die Hand auf den Mund, schaute sie eindringlich an und fuhr flüsternd fort: »Ich weiß, dass es völlig verrückt klingt, aber du musst mir glauben. Ich kann es nicht erklären, aber das ändert nichts an der Tatsache. Ich komme aus der Zukunft. Ich gehöre nicht hierher. In meiner Zeit fliegen die Leute in Flugzeugen von Land zu Land, schießen Raketen zum Mond, senden Informationen als unsichtbare Funkwellen durch die Luft und sprechen über weite Entfernungen miteinander, ohne sich auch nur sehen zu können. Mit einem Gerät, wie ich es auch bei mir hatte.«
»Aus der Zukunft«, wiederholte Bess, als müsste sie das Ungeheure erst aussprechen, bevor sie dessen Sinn begriff. »In dreihundert Jahren.«
»Ja«, antwortete Henry zaghaft und kicherte unangebracht, doch dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Oder aus einem Theaterstück, das in wenigen Jahren im New Theatre aufgeführt wird. Ich bin Captain Macheath, eine fiktive Figur aus einem Singspiel, erfunden von John Gay, zu der Musik von Johann Pepusch. Es gibt mich gar nicht. Noch nicht.«
Bess lachte nicht, doch ihr spöttisches Grinsen verriet, dass sie Henry für übergeschnappt hielt. Natürlich tat sie das. Alles andere wäre ebenfalls verrückt gewesen.
»Wieso weiß ich wohl so viel über euch?«, nahm Henry einen weiteren Anlauf. »Über dich und Jack und Mr. Wild. Weil ihr in diesem Theaterstück vorkommt, weil ihr in die Geschichte eingegangen seid. Und in die Literatur.«
»Zu viel der Ehre«, murmelte Bess, und ihr Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. Sie hob ihre Hand, soweit die Fesseln das zuließen, und wollte Henrys Stirn befühlen. »Hast du Fieber? Geht es dir nicht gut?«
Er schüttelte vehement den Kopf, wehrte ihre Hand ab und sagte: »Ich bin nicht krank, Bess. Ich bin auch nicht verrückt. Ich weiß diese Dinge, weil ich sie in Büchern gelesen habe.« Und im Internet, setzte er in Gedanken hinzu, sprach es aber wohlweislich nicht aus. »Daher weiß ich auch, dass Jack und Blueskin noch in diesem Jahr in Tyburn hingerichtet werden und dass auch Mr. Wild in wenigen Monaten am Galgen landen wird.«
»Dann müssen wir ja nicht mehr lange hier ausharren«, lachte Bess.
»Das ist kein Witz«, beharrte Henry. »Und so viel Zeit bleibt uns nicht. Wir müssen hier raus, sonst werden wir sterben, und zwar sehr bald. Mr. Wild hat gar keine andere Wahl, als uns umzubringen, wenn ihm sein Leben lieb ist.«
»Er wird doch ohnehin in wenigen Monaten hingerichtet, denke ich.«
»Mach dich nicht über mich lustig!« Er faltete seine Hände vor dem Mund, als müsste er sich an eine höhere Instanz wenden, und merkte, dass sie zitterten. »Wir brauchen diesen Brief. Ohne ihn sind wir verloren.«
»Fang du nicht auch noch damit an!«, antwortete Bess. »Ich weiß nichts von diesem verdammten Brief!«
»Aber es gibt ihn, es muss ihn geben«, fuhr Henry unbeirrt fort. »Mr. Wild fürchtet ihn und sucht verzweifelt nach ihm. Und tötet wegen ihm. Wenn wir diesen Brief in unsere Hände bekommen, haben wir Mr. Wild in der Gewalt.«
»Hier drin werden wir ihn bestimmt nicht bekommen.«
»Eben«, sagte er und rieb sich die feuchten Innenflächen der gefesselten Hände. »Hier drin werden wir sterben.« Und als hätte es sich die ganze Zeit in ihm angestaut, platzte es plötzlich, wie vor einigen Tagen in Piper’s Green, aus ihm heraus: »Ich will hier raus! Das ist doch alles Wahnsinn! Hilf mir, Bess!«
»Sch-sch«, machte Bess,
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