Gegen alle Zeit
entgiftet den Körper und bringt die Säfte ins Gleichgewicht. Das würde zumindest Linderung verschaffen.«
»Dann los!«, befahl Mr. Wild und zog seinen Dolch aus dem Gürtel. »Schneidet ihm die Adern auf!«
Henry schluckte, riss die Augen auf und strampelte mit den gefesselten Füßen.
»Hier? Damit?«, rief Mr. Bramble entrüstet und schüttelte den Kopf. »Bringt ihn rüber in Dr. Featherstones Labor. Dort sind alle nötigen Instrumente.«
»Der Kerl bleibt hier!«, fauchte Mr. Wild und hob drohend den Dolch.
»Wenn Ihr ihn töten wollt, Sir, nur zu!« Auch Mr. Brambles Stimme überschlug sich nun, und seine Augen funkelten wütend. »Dafür braucht Ihr mich nicht. Ich bin Wundarzt und kein Schlachter, Sir!«
Mr. Wild verschlug es die Sprache, und für einen Augenblick hatte Henry den Eindruck, als wollte er sich mit dem Dolch auf den Wundarzt stürzen. Dann jedoch steckte er die Waffe weg und befahl: »Schafft ihn raus!«
Henry wurde von dem Wärter Seamus und Hell and Fury grob an Schultern und Füßen gepackt und aus der Zelle geschleppt. Mr. Bramble folgte mit finsterer Miene und gesenktem Kopf. Und Mr. Wild stapfte missmutig und innerlich kochend der seltsamen Prozession hinterher.
Henry krakeelte und wehrte sich ein wenig, um nicht aus seiner Rolle zu fallen, und blickte dabei über die Schulter zu Bess, die ängstlich und traurig in der Zelle zurückblieb und von Bernie wieder eingeschlossen wurde.
Durch die Gittertür sah Henry Bess die gefesselte Hand heben und die Finger an ihre Lippen führen. Dann sank sie kraftlos auf den Strohsack.
5
Henry hatte vermutet, sie würden ihn die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss und von dort in das Eingangsgebäude tragen, durch das Bess und er zwei Tage zuvor mit verbundenen Augen geführt worden waren. Doch bereits nach wenigen Stufen hielt Seamus plötzlich inne, schaute sich fragend zu Mr. Bramble um und fragte: »Zum Doktor?«
»Ay«, antwortete der Wundarzt und nickte. »Mr. Wild ist schließlich ein guter Freund von Dr. Featherstone.«
Auf halber Strecke zwischen dem zweiten und dritten Stock befand sich eine gemauerte Nische in der Wand, die Henry vor zwei Tagen auf dem Weg nach oben nicht weiter beachtet hatte. Vermutlich war sie ihm in der Dunkelheit und nach der langen Zeit mit verbundenen Augen gar nicht aufgefallen. Jetzt aber erkannte er, dass sich in der Nische eine eiserne Tür befand. Der Wärter schloss die Tür mit einem seiner zahlreichen massiven Bartschlüssel auf, die ihm am Gürtel hingen, und dahinter befand sich ein schmaler Gang, der zu einer weiteren Tür führte. Auch diese wurde aufgeschlossen, und sie traten auf eine Galerie hinaus, die sich direkt oberhalb einer riesigen Halle befand. Sie befanden sich im Eingangsgebäude von Bedlam.
Mehr noch als die enormen Ausmaße des Hauses überraschte Henry der Lärm, der ihnen plötzlich entgegenschlug. Das ganze Gebäude war erfüllt von einem Kreischen, Lachen, Wimmern und Klappern, das beinahe unmenschlich wirkte und dennoch von Menschen herrührte. Linker wie rechter Hand ging jeweils ein mehrstöckiger Seitenflügel von der großen Halle ab, und überall wimmelte es von Gestalten, die auf unterschiedlichste Weise zu dem akustischen Tohuwabohu beitrugen. Einige dieser Gestalten waren in einfarbiges Sackleinen gekleidet und zählten offensichtlich zu den Insassen der Anstalt, andere trugen Straßenkleidung oder sogar feinsten Sonntagsstaat und waren offensichtlich nur zu Besuch, aber Krach machten beide Gruppen in gleichem Maße. Eine Traube von Besuchern fiel Henry besonders auf. Sie standen vor einer Zellentür und warfen kleine Gegenstände durch das Gitterfenster, und jedes Mal, wenn aus dem Inneren ein Schrei ertönte, antworteten die Besucher mit Johlen und Gelächter.
»Nach oben«, schrie Seamus gegen den Lärm an und führte die Gruppe zu einer Holztreppe, die von der Galerie aus direkt unter das Dach des Hauses führte. Dort befand sich eine weitere Eisentür, die nun von Mr. Bramble geöffnet wurde.
Kaum hatten sie diese Tür durchschritten, änderten sich das Wesen und die Wirkung des Gebäudes auffallend. Sie betraten einen hellen und weiß verputzten Vorraum, in dem ein Tisch und mehrere Stühle standen und von dem auf der rechten Seite zwei Holztüren abgingen. Am hinteren Ende des Raums war ein großes vergittertes Fenster in der Wand, durch das man einen Blick auf die tiefer gelegene Stadt London hatte. Henry glaubte, in der Ferne die helle
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