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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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wüsste ich sonst, wo sich Bischof Atterbury versteckt?« Und als hätte er völlig den Verstand verloren, schmetterte er mit einem Mal die Marseillaise: »Allons enfants de la Patrie …!« Erst dann fiel ihm ein, dass es die Nationalhymne der Franzosen im Jahr 1724 noch gar nicht gab, und er verstummte schlagartig.
    »Was weißt du davon?«, erboste sich Mr. Wild und fasste Bess grob an der Schulter. »Wovon redet der Kerl? Wo ist der Brief?«
    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung!«, rief Bess und riss sich los. »Ich weiß nicht, was er da zusammenfaselt. Ihr seht doch, dass er nicht bei Verstand ist. Ich habe diesen verdammten Brief nie gesehen, das hab ich Euch schon tausendmal gesagt.«
    Henry lachte irre und sagte: »Bess nicht, Maestro Pepusch auch nicht. Die haben alle keine Ahnung, aber ich. Doch ich verrat’s Euch nicht. Hab ihn gut versteckt. Ihr findet ihn nie.« Dann ließ er sich mit dem Kopf auf den Strohsack fallen und krümmte sich plötzlich wie unter Schlägen. Und wie aus dem Nichts übergab er sich und spuckte Galle vor Mr. Wilds Füße.
    »Sag Sykes, er soll Dr. Featherstone holen!«, befahl der Diebesfänger und wischte sich die Schuhe am Strohsack ab.
    »Es ist Sonntag«, gab Bernie zu bedenken.
    »Na und?«, schrie Mr. Wild und fauchte: »Das ist immer noch ein Hospital, oder nicht? Hier wird’s doch irgendeinen Doktor geben. Oder wenigstens einen Wundarzt.«
    »Dies ist Bedlam, Sir«, meinte Bernie. »Hier sind Wärter wichtiger als Ärzte.«
    »Dummes Zeug!«, schimpfte Mr. Wild. »Sykes steht unten vor der Tür. Er soll jemanden herschaffen. Wenn Dr. Featherstone nicht da ist, dann eben einen anderen. Und wenn’s einer von den Irren ist. Wird’s bald!«
    »Ay, Sir!«, antwortete Bernie, machte einen Bückling und verschwand.
    »Und jetzt zu dir!«, wandte sich der Diebesfänger an Henry und packte ihn am Kragen. »Wo hast du ihn versteckt? Raus mit der Sprache!«
    Henry starrte an Mr. Wild vorbei, als wäre der gar nicht vorhanden, und brabbelte unverständliches Zeug. Er hatte vorerst genug gesagt, jetzt galt es, den Mund zu halten. Als Mr. Wild ihn rüttelte und schüttelte, kicherte Henry wie blöde.
    »Lasst ihn!«, rief Bess. »Ihr seht doch, dass es nichts bringt.«
    »Wo steckt der verdammte Arzt?!«, fauchte Mr. Wild.
    Es dauerte eine geraume Weile, bis Hell and Fury Sykes mit einem jungen Mann erschien, den er als Mr. Bramble vorstellte. Einen Doktor hatte er auf die Schnelle nicht auftreiben können, an Sonntagen hielten sich die Mediziner nicht in Bedlam auf, auch wegen der vielen Besucher und des Geschreis in den Zellen, das eine Behandlung der Patienten ohnehin unmöglich machte. Aber Mr. Bramble war immerhin Wundarzt und versprach, sich um den Kranken zu kümmern.
    »Er hat das Kerkerfieber«, sagte Bess.
    »Kriegt Ihr ihn so weit hin, dass er wie ein normaler Mensch reden kann?«, fragte Mr. Wild. »Im Augenblick brabbelt er nur.«
    Mr. Bramble zuckte mit den Schultern und beugte sich über Henry, der zitternd und röchelnd auf dem Boden lag. Er hatte sich gut auf die Visite des Arztes vorbereitet, seine Haut war heiß und glänzte feucht vor Spucke, sein Herz raste durch das Hyperventilieren, und das atemlose Röcheln klang bemitleidenswert.
    Der Wundarzt befühlte die Stirn, horchte auf den Atem, legte die Hand auf die Brust und sagte: »Er hat Fieber.«
    »Das seh ich auch!«, schnauzte Mr. Wild, und seine Fistelstimme überschlug sich. »Dafür brauch ich keinen Doktor.«
    »Ich bin kein Doktor«, erwiderte Mr. Bramble trotzig, »sondern Wundarzt.«
    Henry glaubte sich zu erinnern, dass die Wundärzte im 18. Jahrhundert noch zu den Handwerkern zählten und wie diese in Zünften organisiert waren. Ähnlich wie Barbiere, Bader oder sogar Hufschmiede waren sie für die äußere Behandlung von Verletzten und Kranken zuständig. Sie waren Handwerkschirurgen. Um die innere Medizin kümmerten sich die studierten Doktoren.
    »Und?«, fragte Mr. Wild. »Was machen wir mit ihm?«
    » Wir warten bis morgen«, antwortete Mr. Bramble, der offensichtlich immer noch beleidigt und von Mr. Wilds Gehabe wenig beeindruckt war. Vielleicht weil er nicht wusste, wen er vor sich hatte. Pikiert setzte er hinzu: »Morgen sind Dr. Featherstone und die anderen doctores wieder da.«
    »Morgen ist Henry tot!«, rief Bess und sah den Wundarzt flehentlich an. »Könnt Ihr denn gar nichts für ihn tun?«
    »Ich könnte ihn zur Ader lassen«, schlug Mr. Bramble vor. »Das

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