Gegen alle Zeit
streichelte Henry über die Wange und erschrak. »Du bist ja ganz heiß und schwitzt. Du darfst dich nicht so aufregen. Du brauchst Schlaf.« Sie rückte an ihn heran, näherte sich mit ihrem Gesicht, hauchte Henry einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist das Fieber, Liebster!«
Der Kuss und die überraschende Anrede fuhren Henry wie ein Schauer über den Körper. Er wollte Bess umarmen, doch die Handschellen und die Kette verhinderten das, also ließ er seinen Kopf auf ihre Schultern sinken und küsste ihre Halsbeuge. Ihre Haut fühlte sich an wie Eis, und wieder fuhr ihm ein Schauer über den Rücken. Erst jetzt erkannte Henry, dass Bess recht hatte: Er hatte Fieber!
Bess fuhr ihm zärtlich über die Haare und den Nacken und flüsterte: »Es wird alles gut, mein Liebster!« Wieder küsste sie ihn, und wieder stellten sich ihm die Haare auf. Er presste sie an sich, sog ihren Geruch auf, küsste ihren Hals, schmeckte das Salz und den Schweiß auf ihrer Haut und schloss die Augen.
»Ich liebe dich, Bess«, wollte er sagen, doch es kamen keine verständlichen Laute über seine zitternden Lippen. Nur ein leises Seufzen.
»Ich bin da, Henry«, war das Letzte, was er hörte, bevor er in einen todesähnlichen Schlaf fiel.
Als er die Augen wieder aufschlug, hatte er keine Ahnung, wie lange oder ob er überhaupt geschlafen hatte. Wie nach einem Koma. Er lag rücklings auf dem Strohsack, den Kopf auf Bess’ Schoß gebettet, und zitterte am ganzen Körper. An dem dämmrigen Licht in der Zelle war nicht zu erkennen, wie spät es inzwischen war. Bess streichelte seine Wange und wischte seine schweißnasse Stirn mit ihrem zerrissenen Brusttuch ab.
»Gott sei Dank!«, rief sie erleichtert. »Ich dachte schon, du stirbst.«
»Noch nicht«, murmelte Henry und hatte Mühe, sich zurechtzufinden.
»Mr. Wild war gerade da«, sagte Bess. »Er wollte dich wecken, aber du hast geschlafen wie ein Toter. Er kommt morgen wieder, hat er gesagt. Wenn wir ihm dann nicht verraten, wo der Brief ist, werden wir sterben.«
Henry wollte etwas erwidern, doch er wusste keine Antwort darauf und nickte nur. Seine Lippen waren trocken und gerissen, der geschwollene Kiefer fühlte sich an, als hätte man ihn mit glühenden Zangen bearbeitet. Alles brannte!
»Ich hab Durst«, murmelte er schließlich, doch Bess schüttelte mit dem Kopf.
»Kein Wasser«, sagte sie, befeuchtete ihre Finger mit Spucke und fuhr ihm damit über die spröden Lippen.
Wieder nickte Henry und schloss die Augen. Und dann war der Gedanke wieder da. Er wusste nicht genau, ob er ihm im Schlaf oder bereits vorher gekommen war, doch jetzt erschien er ihm ebenso naheliegend wie erfolgversprechend. Schließlich war er ein Schauspieler, ein guter, wie er glaubte. Jetzt galt es, das unter Beweis zu stellen. Es kam ihm beinahe so vor, als hätten ihn die Jahre auf der Schauspielschule allein auf diese Situation vorbereitet. Damit er sich aus ihr befreien könnte.
Der Brief würde sie retten! Solange Mr. Wild nicht wusste, wo sich dieses Schreiben befand, war es für ihn zu riskant, sie umzubringen. Denn der Diebesfänger war ja davon überzeugt, dass Bess und Henry etwas über den Verbleib wussten. Das galt es auszunutzen. Und deshalb öffnete Henry die Augen und sagte: »Wir dürfen ihm den Brief nicht geben.«
»Da wir ihn nicht haben und nichts darüber wissen, wird uns das nicht schwerfallen«, meinte Bess achselzuckend.
Henry überlegte, ob er Bess in seinen Plan einweihen sollte, doch dann entschied er sich dagegen. Vielleicht war alles ja nur ein Fieberwahn, den er in seinem angeschlagenen Zustand nicht als solchen erkannte. Eine wirre Phantasmagorie. Gleichzeitig hatte er trotz des Fiebers das Gefühl, völlig klar denken zu können. Oder gerade wegen des Fiebers? Das Fieber gehörte schließlich zu seinem Plan. Wie der Brief. Wenn es denn überhaupt ein Plan war.
Nein, es war besser, Bess im Unklaren zu lassen. Sie würde viel überzeugender wirken, wenn sie glaubte, was sie sagte. Deshalb murmelte er: »Ich weiß, wo der Brief ist. Albrecht hat ihn mir gegeben.«
Bess starrte ihn ungläubig an und fragte: »Du hast Albrecht gekannt?«
»Wir haben gemeinsame Sache gemacht.«
»Jetzt redest du wieder irre«, meinte Bess und zog die Stirn kraus.
»Woher wüsste ich sonst von Bischof Atterbury?«, sagte er und versuchte vergeblich, sich aufzurichten. »Und dass er in Frankreich ist.«
»Du kommst aus der Zukunft und hast es in Büchern
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