Gegen alle Zeit
Hure und Diebin, die sich ohne Hemmungen mit Räubern und Gesindel einließ und sie ebenso skrupellos ans Messer lieferte, wenn es ihr in den Kram passte. Hatte sie nicht gerade erst dem Diebesfänger gestanden, dass sie ihren ehemaligen Geliebten hatte töten wollen? Aus Rache. Wer wusste schon, was sie sonst noch auf dem Kerbholz hatte. Wem sie zum Verhängnis geworden war. Dass sie Jack an Jonathan Wild verraten hatte, sprach nicht gerade für sie. Auch wenn Jack es ihr in gleicher Währung heimgezahlt hatte.
Henry versuchte sich einzureden, dass Bess gegen ihren Willen und ohne eigenes Dazutun in ihre missliche Lage geraten war, dass sie eine dieser »gefallenen Frauen« war, von denen es in viktorianischen Romanen nur so wimmelte. Doch das war höchstens die halbe Wahrheit. Bess war keine Unschuld vom Lande, die durch die böse Großstadt oder niederträchtige Männer ins Elend gestoßen worden war und nun darauf wartete, von einem holden Mannsbild gerettet zu werden. Bess war nicht unschuldig, war es vermutlich nie gewesen, und gerade das faszinierte Henry. Und erregte ihn. Die brave Küsterfrau Elizabeth Lyon hätte ihn nicht interessiert, aber die ebenso zwielichtige wie selbstsicher auftretende Edgworth Bess hatte ihn wie eine Hexe in den Bann gezogen. Weil oder obwohl sie eine Hexe war? Henry war sich dessen nicht sicher.
Vor drei Tagen hatte er mit ihr im Little Stanmore Inn das Bett geteilt. Er dachte daran, wie sie ihm angeboten hatte, mit ihr zu schlafen – auch ohne dafür zu zahlen. Als wäre nichts dabei. Rein, raus, Augen zu, gute Nacht! Henry errötete vor Scham und Widerwillen und musste sich zugleich eingestehen, dass ihn der Gedanke nach wie vor erregte. Wie ihn Bess’ körperliche Nähe erregt hatte.
Doch dann hörte er wieder ihre Worte aus der Zelle: »Bleib bei mir, Liebster!« Vermutlich hatte sie diese sanften und liebevollen Worte nur gesagt, weil sie ihn für im Delirium fiebernd gehalten hatte. Doch Henry war überzeugt davon, dass Bess nicht gelogen hatte. Jedenfalls wünschte er sich das.
Und wenn es tatsächlich so war? Wenn Bess ihn ebenfalls liebte? Was folgte daraus? Konnte er sich vorstellen, mit einer Frau wie Bess zusammen zu sein? Würde er ihretwegen dableiben, wenn er andererseits die Möglichkeit hätte, in die Zukunft zurückzukehren? Die Wahrheit war: Er wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr. Es war alles aus dem Lot.
Henry wäre um ein Haar an dem Schweinestall vorbeigelaufen. So sehr war er in Gedanken vertieft und so wenig achtete er auf seine Schritte, die ihn von Moorfields bis nach Westminster geführt hatten, dass er es kaum bemerkte, als er die Bond Street erreichte. Auf seinem Weg nach Westen war er an beinahe allen Orten vorbeigekommen, die in den letzten Tagen so bedeutsam für ihn gewesen waren. Zunächst hatte er das Hurenhaus in Little Britain passiert, in dem er seine Jungfernnacht verbracht und sich zum Dämlack gemacht hatte, dann hatte er unweit von Wild’s House in der Cock Lane den stinkenden Fleet River überquert, schließlich war er zu den Lincoln’s Inn Fields gelangt, wo einem Musiktheater der deutsche Kapellmeister abhanden gekommen war, und kurz darauf war er gleich unterhalb von St. Giles auf die Drury Lane gestoßen, die ihrem anrüchigen Ruf selbst zu dieser frühen Morgenstunde alle Ehre gemacht und vor Gesindel nur so gewimmelt hatte. Von dort war es nicht weit zum Covent Garden und schließlich zur vornehmen Piccadilly gewesen, wo er nun mit wund gelaufenen Füßen vor den Stallungen des Burlington House stand.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen und stand als fahle Scheibe über dem Horizont. Der morgendliche Herbstnebel, der ihm anfangs durchaus zupass gekommen war, hatte sich merklich gelichtet. Henry wusste nicht, wie lange er für seinen Fußmarsch gebraucht hatte. Er wusste nur, dass er unbeschreiblichen Hunger und noch größeren Durst hatte. Und dass er todmüde war und ihm alle Knochen im Leib wehtaten. Sein abgebrochener Schneidezahn zwiebelte, sein blau angelaufener Unterkiefer schmerzte bei jeder Berührung oder Bewegung, und die Schnittwunden an den Armen brannten, als hätte er Essig hineingeträufelt. Er musste ein elendes Bild abgeben.
Henry war mit seinen Kräften am Ende. Und als er an die Stalltür klopfte, hoffte er inständig, dass ihm der alte Samuel öffnete und er nicht von irgendeinem anderen Bediensteten oder Knecht abgewiesen wurde. Die Flucht aus Bedlam war anstrengend genug gewesen, nun
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