Gegen alle Zeit
alt und baufällig getrimmt war. Henry hätte es nicht gewundert, wenn auch das Efeu an den Wänden nur aufgemalt gewesen wäre.
»So, da wären wir«, sagte Samuel und machte eine einladende Geste.
Vor dem Häuschen, das einem antiken Tempel nachempfunden war, standen ein Lehnstuhl und ein kleiner Tisch, auf dem der wurmstichige Rest eines Apfels und ein Stück Brotrinde lagen. Henry biss ungefragt in den Apfel und verschlang die Rinde, als wäre sie aus Schokolade.
»Ihr seid hungrig, Captain«, sprach Samuel aus, was offensichtlich war. »Soll ich Euch etwas zu essen bringen? Wir haben drüben im Gesindehaus noch Porridge vom Frühstück übrig. Soll ich es Euch warm machen?«
»Das wäre sehr freundlich«, antwortete Henry und ließ sich in den Lehnstuhl fallen. Er sah noch, wie der Alte quer über den Rasen in die Richtung eines zweistöckigen Gebäudes humpelte, das aus der Ferne an eine altrömische Villa erinnerte. Dann wurde es Nacht um ihn.
9
Der durchdringende Klang einer Bratsche weckte ihn. Und eine tiefe Männerstimme, die etwas schief dazu sang: »Jeder Nachbar beschimpft seinen Bruder, Hure und Gauner nennt man Mann und Frau.«
Die Musik stoppte abrupt, und Henry hörte Maestro Pepusch in seinem abgehackten Tonfall und mit nasaler Stimme fragen: »Ist das nicht etwas zu starker Tobak, John?«
»Es ist die reine Wahrheit«, antwortete Mr. Gay. »Darum geht es doch, oder? Den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, auch wenn sie darin eine Fratze zu sehen bekommen. Außerdem ist es unser Bösewicht, der so redet. Warum sollte er ein Blatt vor den Mund nehmen? Nein, wir müssen mit einem Tusch beginnen, und zwar nicht nur musikalisch.«
»Wenn du meinst«, antwortete Maestro Pepusch, aber er klang nicht sehr überzeugt.
Henry schlug die Augen auf und wunderte sich, dass er nicht mehr vor dem Gärtnerhaus im Lehnstuhl saß, sondern drinnen auf einem Sofa lag. Sie mussten ihn hineingetragen haben. Er richtete sich auf und hätte beinahe einen kleinen Beistelltisch umgestoßen, der vor ihm aufgebaut war und auf dem eine Schüssel mit Haferbrei stand. Noch dampfend. Er hatte also wohl nicht allzu lange geschlafen.
»Ah, da seid Ihr ja!«, rief Mr. Gay erfreut. »Willkommen, Captain!«
»Guten Morgen, die Herren«, antwortete Henry und schaute sich in dem spartanisch eingerichteten Raum um, in dem beinahe jedes Möbelstück mit beschriebenen Papieren oder Notenblättern belegt war. »Verzeiht mein aufdringliches Erscheinen und meinen vernachlässigten Aufzug. Ich hoffe, Ihr seht es mir nach.« Er bemerkte, dass er wieder den Captain Macheath mimte, schalt sich in Gedanken dafür und setzte weniger theatralisch hinzu: »Ich bin am Ende und auf Eure Hilfe angewiesen.«
»Esst!«, sagte Maestro Pepusch, dessen Nase verbunden war und der deshalb so näselnd sprach. »Der alte Samuel hat Porridge gebracht.«
»Was genau führt Euch zu uns?«, wollte Mr. Gay wissen. Anders als beim letzten Mal schien er regelrecht erfreut darüber, einen steckbrieflich gesuchten Mann in seinen vier Wänden zu haben. Er wirkte auf Henry wie aufgeblüht, sein Gesicht hatte sichtlich Farbe bekommen, und seine großen, braunen Augen schienen lebendiger. Er forderte Henry auf: »Erzählt!«
»Die reine Wahrheit?«, antwortete Henry mit einer Gegenfrage und schob sich einen Löffel Haferbrei in den Mund. »Auch wenn es starker Tobak ist?«
»Unbedingt«, antwortete Mr. Gay und klatschte in die Hände. »Alles andere würden wir nicht zulassen. Aber zur Wahrheit gehört Wein, dann kommt sie leichter über die Lippen.« Er füllte ein Glas mit Rotwein und stellte es auf das Tischchen. »Hier, trinkt!«
»Cheers!« Henry aß und trank und berichtete. Er erzählte alles, was er wusste, was er sich zusammengereimt hatte oder von anderen, vornehmlich von Bess, in Erfahrung gebracht hatte. Er berichtete von Jack Sheppard und Jonathan Wild, dem Oboisten Albrecht Niemeyer und dem Küster Matthew Lyon, von Dr. Arbuthnot und Bischof Atterbury. Und natürlich von Edgworth Bess. Sein Bericht sprang wild hin und her, vom Newgate-Gefängnis zum Cannons House, von der Drury Lane zum New Theatre, von der Cross Keys Tavern zum Bedlam Hospital, und endete mit seiner Flucht aus dem Irrenhaus. Dass er aus der Zukunft kam, verschwieg er vorsorglich, auch wenn dieses absurde Detail in seiner abenteuerlichen Geschichte vermutlich gar nicht weiter aufgefallen wäre.
Als er seine verwirrenden und nicht immer schlüssigen Ausführungen beendet
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