Gegen alle Zeit
Lane bewusst geworden«, sagte Sarah beim Abschied. »Ich hab nämlich meine Nachfolgerin auf der Bühne gesehen. Solltest du dir nicht entgehen lassen.«
»Spielen sie die Beggar’s Opera immer noch?«, wunderte sich Henry.
»Was denkst du denn?«, antwortete Sarah und lachte bitter. »Bei der Werbung, die wir für das Stück gemacht haben! Welches Theater hat die Berichterstattung über die Premiere schon auf den Titelseiten der Schmierenblätter?«
Mit diesen Worten und einer Kusshand verließ sie ihn.
Zwei Wochen später folgte Henry Sarahs Aufforderung und sah sich das Stück an. Da er keine peinlichen Mitleidsbekundungen oder kollegialen Glückwünsche zur Genesung provozieren wollte, hatte er sein Erscheinen nicht angekündigt und sich als ganz normaler zahlender Gast unters Publikum gemischt. Mit seinem merkwürdigen Helm auf dem Kopf war er ohnehin kaum zu erkennen.
Es war seltsam und verwirrend, die Beggar’s Opera aufgeführt zu sehen. Nicht nur, weil Henry bis vor Kurzem selbst dort auf der Bühne gestanden hatte und das Stück so gut kannte wie kaum ein anderes, sondern auch, weil er in der Zwischenzeit den Vorbildern dieser fiktiven Gauner und Huren begegnet war. Der Hehler Peachum, der gleich zu Beginn auftrat und nun von einem anderen alternden Fernsehstar gespielt wurde, hatte so wenig mit dem tatsächlichen Mr. Wild gemein, dass Henry beinahe laut gelacht hätte.
Gespannt wartete er auf die siebte Szene des ersten Aktes, in der Polly Peachum ihren ersten Auftritt hatte. Sarahs neidisch bewundernde Worte hatten ihn neugierig gemacht, und er wurde nicht enttäuscht. Als Polly auf die Bühne trat, klappte Henry der Unterkiefer herunter, und dann schmetterte sie selbstbewusst die Worte heraus: »Wenn ich Captain Macheath einige unbedeutende Freiheiten erlaube, so habe ich doch dafür diese Uhr und andere sichtbare Zeichen seiner Zuneigung vorzuweisen.«
Henry konnte es nicht fassen. Dort stand Bess auf der Bühne. Die leibhaftige Bess! Natürlich wusste er, dass sie es nicht sein konnte, und bei näherem Hinsehen erkannte er, dass sie es nicht war . Doch die Ähnlichkeit war verblüffend und bestürzend, trotz der Perücke und der weißen Schminke. Oder vielleicht gerade deshalb. Auf dem Flyer, den er an der Kasse erhalten hatte, war die Besetzungsliste abgedruckt. Polly Peachum wurde von einer Melissa Cartwright gespielt. Henry hatte den Namen noch nie gehört, aber er war sicher, dass er ihn nicht so schnell vergessen würde.
Diese Melissa gab die Hehlerstochter Polly mit einer Resolutheit und gleichzeitigen Sanftheit, die alle Anwesenden sofort in den Bann zog. Jedenfalls kam es Henry so vor. Die eigenwillige Interpretation der Rolle mochte den Absichten des Dichters John Gay, der Polly als naives Dummchen konzipiert hatte, auffallend widersprechen, dennoch wirkte sie glaubwürdig und echt.
»Wie Bess!«, entfuhr es ihm.
»Psst!«, machte sein Sitznachbar.
Henry verfolgte das Schauspiel wie in Trance, doch was die übrigen Akteure (allen voran sein Nachfolger in der Rolle des Macheath) auf der Bühne veranstalteten, interessierte ihn kaum. Er hatte nur Augen und Ohren für Bess. Nein, Melissa! Und als sie in der letzten Szene dem zum Tode verurteilten Macheath zum Abschied zurief: »Kein Zeichen der Liebe?«, steckte ihm ein Kloß im Hals, als befände er sich nicht in einer bissigen Satire, sondern in einem sentimentalen Drama.
Nach dem letzten Vorhang ging Henry hinter die Bühne und wurde von den Schauspielern und Bühnenarbeitern, mit denen er vor zwei Monaten noch zusammengearbeitet hatte, mit einem freudigen Applaus empfangen. Man schüttelte ihm die Hände, umarmte ihn, klopfte ihm auf die Schulter oder tippte lächelnd an den schwarzen Kunststoffhelm. Henry ließ die freundlichen bis freundschaftlichen Bekundungen stoisch über sich ergehen und hielt Ausschau nach Melissa Cartwright, die noch in ihrer Garderobe zu sein schien.
»Sie ist ’ne Wucht, oder?«, bekam er von David, dem Regisseur des Stücks, als Antwort, als er sich möglichst beiläufig nach ihr erkundigte.
»Das ist sie«, bestätigte Henry und schaute zu Boden.
Als sie schließlich im Gruppenraum hinter der Bühne erschien – ohne Perücke, ohne Schminke, ohne Kostüm –, da fielen Henry die vielen Unterschiede zu Bess auf. Melissa war viel kleiner und zierlicher, sie hatte schwarzes kurzes Haar und ein schmaleres Gesicht, und ihr Busen war bei Weitem nicht so üppig. Und doch sah Henry unentwegt Edgworth
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