Gegen alle Zeit
Baum abstützen musste. »Hoppla!«
Bess konnte es kaum glauben. Vor drei Jahren hatte sie Mr. Gay zuletzt gesehen, doch damals war er ein junger Mann mit pausbackigem Lausbubengesicht gewesen. Zwar hatte er bereits eine hohe Stirn und etwas schütteres Haupthaar gehabt, doch das hatte er mit langen Locken wettgemacht, die ihm vom Hinterkopf bis auf die Schultern fielen. Wie hatte der Colonel gesagt? »Der Schatten von einem Mann!« Und nun verstand Bess, was er damit gemeint hatte. Die Haare waren ihm gänzlich ausgegangen, die Wangen wirkten eingefallen, und die Haut war rissig wie bei einem Krätzekranken. Er war in der kurzen Zeit wie um Jahrzehnte gealtert. Aus dem schelmischen Lausejungen, den Bess in Erinnerung hatte, war ein abgehalfterter Trinker geworden. Und wieder fielen ihr Charteris’ Worte ein: »Ein Jammer!«
»Was treibt Euch nach Burlington House? Arbeitet Ihr jetzt als Dienstmagd für den Grafen?«, fragte Mr. Gay und deutete auf den Stuhl vor dem Gartenhäuschen, auf dem er vorhin gedöst hatte. »Wollt Ihr Euch setzen und ein wenig mit mir plaudern? Ich langweile mich … zu Tode.«
Bess schüttelte den Kopf und antwortete: »Ihr werdet lachen, aber ich war auf der Suche nach Euch. Und jetzt habt Ihr mir direkt gegenübergestanden, und ich hab Euch beinahe nicht erkannt. Was ist mit Euch geschehen? Ihr seht …«
»Alt aus?«, ergänzte Mr. Gay. »Heruntergekommen? Elend? Erbärmlich?« Er zuckte achtlos mit den Schultern und setzte sich auf den Stuhl, den Bess ausgeschlagen hatte. »Ich sehe nur so aus, wie ich mich fühle. Mir ist es in den letzten drei Jahren … nicht besonders gut ergangen.«
»Wem sagt Ihr das!«, raunte Bess und schaute zu Boden.
Mr. Gay horchte auf und schaute sie neugierig an. Doch dann winkte er ab und deutete auf eine Weinflasche, die auf einem kleinen Holztisch stand. »Wollt Ihr? Aus dem erlauchten Weinkeller des Grafen.«
Wieder schüttelte Bess den Kopf. »Ich suche einen Freund von Euch: Mr. Pepusch. Oder besser gesagt, ich bin auf der Suche nach einem Freund von Mr. Pepusch. Einem Musiker namens …«
»Niemeyer!« Mr. Gay nickte, schenkte sich Wein in ein Glas und leerte es in einem Zug. »Albrecht Niemeyer. Ja, ich erinnere mich. Ein genialer Musiker, aber ein ebenso widerlicher Kerl. Habt Ihr es schon in Cannons House versucht?«
Bess starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Verstehe«, sagte Mr. Gay und räusperte sich. »Ja, sicher. Eine dumme Geschichte.«
»Dumm? Ist das alles, was Euch dazu einfällt?«, empörte sich Bess und trat nahe an Mr. Gay heran. »Mein Mann ist tot!«
»Gewiss, gewiss, aber daran wart Ihr nicht ganz unbeteiligt, wenn ich mich recht entsinne.« Er grinste anzüglich, schlug die Beine übereinander und füllte sich erneut das Glas. »Und überhaupt: Was hab ich mit der unseligen Sache zu schaffen? Mr. Niemeyer interessiert mich nicht, er war schon damals ein elender Mistkerl. Es war Eure eigene Torheit, auf ihn reinzufallen. Versteh einer die Weiber! Ich kann Euch nicht helfen, Madam, und will es auch nicht. Schert Euch zum Teufel!«
»Ich hatte Euch anders in Erinnerung«, murmelte Bess und schob wütend die Unterlippe vor. »Ihr wart einmal ein Gentleman. Von all den Dichtern und Musikern in Cannons wart Ihr der Einzige, den ich als aufrichtig kennengelernt habe. Jedenfalls nicht so verlogen und herzlos wie der Rest der Bande.«
»Nun, Pech, meine Liebe«, knurrte Mr. Gay und knallte das Glas auf den Tisch. »Ihr seht ja, was es mir eingebracht hat. Warmherzigkeit und Ehrlichkeit muss man sich leisten können. Meine Zeit als Gentleman ist vorbei. Heute helfe ich dem Gärtner des Grafen dabei, die pflanzlichen Sperenzchen seines Herrn in Form zu halten, und spiele ansonsten den Hofnarren für eine Handvoll Schotten, die dem König von Großbritannien nach dem Leben trachten. Ich darf den kulturlosen Banausen aus dem Norden nach dem Essen frivole Schäfergedichte vortragen. Damit sie beim Furzen und Verdauen was zu lachen haben.«
»Dem König nach dem Leben trachten?«, entfuhr es Bess.
Mr. Gay lachte und griff wieder nach dem Glas. »Was glaubt Ihr, warum Burlington House wie eine Festung gesichert ist? Etwa weil mir die Gläubiger auf der Spur sind? Oder weil der Graf Angst vor der Rache einer seiner vielen Geliebten hat? Oh nein, in Burlington House wird das Hohelied auf die Jakobiten gesungen. Die Stuarts werden wie Götzen angebetet. Das mag zwar vor allem auf dem katholischen
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