Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
Mist von Lady Burlington gewachsen sein, aber der Graf mischt munter mit. Jedenfalls unternimmt er nichts dagegen.«
    »Lord Burlington ist ein Katholik und Jakobit?«, wunderte sich Bess.
    »So weit würde ich nicht gehen, er ist schließlich kein Dummkopf, aber er hält sich alle Optionen offen«, lachte Mr. Gay und verschluckte sich an dem Wein. »Nur für den Fall, dass doch mal einer der vielen ungeschickten Aufstände der Jakobiten erfolgreich ist und die Stuarts irgendwann wieder den Thron besteigen. Man weiß schließlich nie. Auch ein blindes Huhn findet bekanntlich mal ein Korn. Oder einen mächtigen Verbündeten in Europa. Vor zwei Jahren hätte es ja beinahe schon mal geklappt.«
    »Und Ihr?«, fragte Bess. »Haltet Ihr Euch auch alle Optionen offen?«
    »Ich habe keine Optionen mehr«, antwortete Mr. Gay, wischte sich über das unrasierte Kinn und erhob sich schwerfällig. Er nahm die Ballonmütze vom Kopf und stapfte zu dem Häuschen, dessen abgerundete Fassade einem alten Tempel nachempfunden war. »Ich singe Trinklieder für kulturlose Banausen und dichte Spottverse auf Protestanten und Hannoveraner, gerade so, wie man es von mir verlangt. Davon abgesehen will ich nichts als meine Ruhe.«
    »Ihr habt einmal anders gesprochen.«
    »Ja, und ich habe sogar einmal anders geschrieben. Ein langes Gedicht auf das Straßenleben von London habe ich verfasst. Dem Volk aufs Maul geschaut, wie man so sagt. Das Problem ist nur, dass niemand es lesen wollte.« Er lachte gallig und setzte hinzu: »Die Reichen nicht, weil sie ungern ungeschminkt in den Spiegel gucken. Und die Armen nicht, weil sie eben nicht lesen können.«
    »Ihr habt Angst vor dem wahren Leben!«, entfuhr es Bess.
    »Seltsam«, meinte Mr. Gay und schaute sie überrascht an. »Das hat Swift auch gesagt. Zum Henker mit den Pastoralen und Schäferspielen! Her mit den Räubern und Dirnen! So oder ähnlich hat er geschimpft. Das ist leicht gesagt, wenn man sich um das tägliche Brot nicht sorgen muss.«
    »Mit Räubern und Dirnen könnte ich dienen«, antwortete Bess nachdenklich.
    »Zu spät, meine Liebe. Zu spät! Das wahre Leben kann mir gestohlen bleiben! Ich halte es mit den alten Römern: In vino veritas!« Damit verschwand er im Inneren des Häuschens und schloss grußlos die Tür.
    »Dann langweilt Euch nur weiter zu Tode! Und trinkt Euch ins Grab!«, rief Bess und hätte vor Wut und Enttäuschung beinahe geweint. Doch sie presste die Lippen aufeinander und unterdrückte die Tränen. Dann raffte sie ihr Samtkleid, unter dem ihr der Schweiß kalt über den Körper lief, und hastete eilig davon.
    »Lincoln’s Inn Fields!«
    Bess fuhr zusammen und wandte sich um.
    »Lincoln’s Inn Fields!«, wiederholte John Gay. Er stand vor dem Häuschen und trat unruhig auf der Stelle, als plagte ihn die Blase. »Versucht es im New Theatre an der Portugal Street. Als ich Maestro Pepusch das letzte Mal gesehen habe, hat er dort als Kapellmeister gearbeitet. Ist allerdings schon eine Weile her.«
    »Danke«, sagte Bess erleichtert und lächelte.
    Mr. Gay winkte ab und antwortete: »Grüßt das wahre Leben von mir! Und sagt ihm, dass es sich gefälligst von mir fernhalten soll.« Dann griff er nach der Weinflasche, setzte sie sich an den Mund und verschwand wieder in seiner Hütte.

5

    Während Bess auf der Piccadilly nach Osten ging, in Richtung Soho, schossen ihr die Gedanken wie Sternschnuppen durch den Kopf, hell aufleuchtend, aber ohne erkennbares Ziel und nach kurzer Zeit verloschen, als hätte es sie nie gegeben. Doch je näher sie Covent Garden kam und je vertrauter ihr die Gegend wurde, in der sie in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in London gewohnt hatte, desto weniger achtete sie auf ihre Umgebung, und desto deutlicher und fassbarer wurden ihre Gedanken.
    Als sie schließlich die Maiden Lane betrat, in der sich das vornehmere der beiden Hurenhäuser von Mutter Needham befand, kam ihr ein seltsamer Vergleich in den Sinn. Bess hatte nie ganz verstanden, mit welchem Recht sich die Künstler für etwas Besseres hielten und worauf sie ihren Dünkel und ihre Selbstgefälligkeit gründeten. In Bess’ Augen waren sie nichts weiter als männliche Huren, die sich für Geld oder Gefälligkeiten verkauften. Burlington House war in gewisser Weise ein Hurenhaus der Künste, mit dem Grafen von Burlington als Kuppler und Hehler, und auch in Cannons House war es nicht anders gewesen. Der dortige Herzog von Chandos, ein unvorstellbar reicher und ebenso

Weitere Kostenlose Bücher