Gegen alle Zeit
gesehen hatte, war beeindruckend gewesen, doch erst wenn man den Park der Länge nach und mit Blick auf das Herrenhaus in Augenschein nahm, entfaltete sich der ganze Reichtum des Gartens. Zwar hatte Bess einen ähnlich prächtigen Park bereits in Cannons gesehen, hier wie da waren die dichten Hecken zu Irrgärten oder Säulengängen zurechtgeschnitten, die Rasenflächen erinnerten an Ornamente, und die bunten Blumenrabatten wirkten beinahe wie Stickereien, doch dieser Garten hatte zudem etwas Verwunschenes oder Verträumtes an sich. Und erst jetzt erkannte Bess, dass die Häuser und Hütten, die sie für verfallen oder etwas schäbig gehalten hatte, gar nicht alt und baufällig waren, sondern nur so aussehen sollten. Ja, es gab sogar ruinenartige Gebäude und etliche Säulen oder Pfeiler, die nicht nur keinen Aufbau trugen, sondern denen auch der Kopf oder Abschluss fehlte und die nutzlos in der Gegend herumstanden. Bess kam es so vor, als hätte sich jemand sehr viel Mühe gemacht, das Ganze unfertig oder vernachlässigt aussehen zu lassen. Ein seltsamer Widerspruch. Oder ein Witz, über den nur Adelige lachen konnten.
Der Gedanke an Cannons erinnerte sie daran, weshalb sie hergekommen war, und so verließ sie den Küchengarten und ging auf einem schmalen, sich um alte Bäume herumschlängelnden Weg am Rande des Anwesens in Richtung Herrenhaus. Als Gast des Grafen würde John Gay vermutlich in den herrschaftlichen Gebäuden an der Piccadilly untergebracht sein, und da sich auch die Gesindehäuser, wo Bess sich als Erstes umhören wollte, dort befanden, lief sie in südlicher Richtung und achtete darauf, von niemandem angesprochen zu werden. Das war einfacher als gedacht, denn außer einem kahlköpfigen Gärtner, der vor seinem Häuschen in der Sonne döste, einem livrierten Bediensteten, der mit einem Weidenkorb über den Rasen eilte, und einer Magd, die hinter den Gesindehäusern Wäsche aufhängte, begegnete sie keinem Menschen. Es schien beinahe so, als befände sich Burlington House im Mittagsschlaf.
Doch plötzlich wurde Bess aus ihren Gedanken gerissen. »Ma’am!«, rief eine laute Stimme hinter ihr, und als sie sich umschaute, erblickte sie den Gärtner, der sich erhoben und ihr genähert hatte.
»Ay?«, fragte Bess erschrocken.
»Ma’am«, wiederholte der Glatzkopf und lächelte seltsam. »Wusste ich es doch, dass Ihr es seid, Mistress …« Er suchte nach dem Namen und fand ihn schließlich: »Lyon! Richtig, Elizabeth Lyon, nicht wahr?«
»Woher kennt Ihr mich?«, fragte Bess erstaunt und zugleich alarmiert. Seit Jahren war sie nicht mehr »Ma’am« und »Mistress Lyon« genannt worden. Mrs. Elizabeth Lyon war tot, begraben auf dem Schandanger, neben ihrem Mann Matthew, auch wenn ihre sterbliche Hülle noch unter dem Namen Edgworth Bess herumgeisterte.
»Habe ich mich so verändert?«, fragte der Gärtner und schaute an sich hinab. Er hob entschuldigend die Achseln und setzte dann eine dunkelrote, samtene Ballonmütze auf, die nicht so recht zu dem grobleinenen Gärtnerkittel passen wollte. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben …« Er unterbrach sich, klopfte sich auf die Brust und rülpste laut. Dann riss er die Augen auf und presste die Lippen aufeinander, als wollte er einen weiteren Rülpser unterdrücken, und schwankte auf der Stelle hin und her. Schließlich sagte er: »Lange her … damals.«
Erst jetzt begriff Bess, dass der Mann betrunken oder zumindest angetrunken war, und sie betrachtete ihn noch eingehender. Das Auffallendste an ihm waren seine großen braunen Augen und die hervorstehende spitze Nase, doch davon abgesehen war sein Gesicht nicht gerade bemerkenswert. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen, er mochte vierzig oder auch fünfzig Jahre alt sein, der eingefallenen, knittrigen Haut nach zu urteilen vielleicht sogar älter. Bess kramte in ihrem Gedächtnis, doch sie wurde nicht fündig. Lediglich die rote Samtmütze kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Was meint Ihr mit damals ?«, fragte sie.
»Na, meine Zeit in Cannons House, was sonst?«, meinte der Kahlkopf und beendete seinen Satz mit dem Rülpser, den er zuvor zu unterdrücken versucht hatte.
»Cannons?«, entfuhr es Bess. Und als wäre sie bisher von allen guten Geistern verlassen gewesen, schlug sie sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und murmelte: »Natürlich! Ihr seid …«
»John Gay, mit Verlaub«, antwortete er und verbeugte sich, wobei er beinahe das Gleichgewicht verlor und sich an einem
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