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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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wolltest du bei Albrecht Niemeyer?«
    »Ihn umbringen!«, antwortete Bess so schnell, dass selbst Mr. Wild überrascht zusammenzuckte. »Aber er war schon tot. Aufgeknüpft.«
    »Warum wolltest du ihn töten?«
    »Weil er es verdient hat.«
    »Du warst seine Geliebte, nicht wahr?«
    »Er hat mich zur Hure gemacht.«
    Diesmal antwortete Mr. Wild nicht mit einem Nicken, sondern lachte Bess ins Gesicht und rief: »Du warst schon eine Hure, bevor du in einem Bordell gelebt hast. Mach dir nichts vor, Bess, du warst nie etwas anderes!«
    Bess sah ihn verständnislos und verwirrt an, doch dann grinste sie und nickte. Er war also doch interessiert. Und sie begann, sich das Mieder aufzuknöpfen.
    Mr. Wild schaute sie angewidert an, sprang mit einem Mal auf und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch einmal, direkt auf die Nase. Ihr war, als wachte sie aus einem Traum auf; sie gab keinen Ton von sich und schaute ungläubig auf ihre Finger, die immer noch an ihrem Dekolleté herumnestelten.
    »Jetzt spuck’s schon aus!«, rief Mr. Wild. Seine ohnehin fistelige Stimme überschlug sich und klang schrill und quietschend.
    »Ich weiß doch nichts«, jammerte sie und fuhr sich mit der Hand über die Nase, aus der das Blut tropfte. »Ich hab keine Ahnung. Das hat der Maestro ganz richtig gesagt. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat.«
    »Welcher Maestro?«
    »Mr. Pepusch.«
    »Was ist mit ihm?«
    »Sykes hat ihm die Nase zerschnitten«, antwortete Bess, während sie sich gleichzeitig das Blut von der eigenen Nase wischte. »Er hat ein Messer in seinem Gehstock. Und dann hat er Albrecht umgebracht.«
    Als sie in Mr. Wilds Gesicht blickte, das plötzlich zur starren Maske geworden war, wusste Bess, dass sie einen Fehler begangen hatte. Mehr als einen. Sie hatte gerade ihr Todesurteil unterschrieben.
    »Warum?«, fragte der Diebesfänger.
    »Warum was?«
    »Warum hat Sykes den Flötenspieler umgebracht?«
    »Oboe«, antwortete Bess und grinste unbeholfen. »Keine Flöte.« Doch plötzlich hatte sie einen klaren Moment. Wie eine sonnige Lichtung in einem nebligen Wald trat ihr mit einem Mal ein Bild vor die Augen: Matthew, mit der Pistole in der Hand und dem Loch im Schädel. Auch er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Und deshalb sagte Bess: »Aus dem gleichen Grund, warum man meinen Mann umgebracht hat.«
    Das dreimalige Klopfen an der Tür hörte sie kaum noch, und sie bemerkte Mr. Wilds Abwesenheit erst, als er längst den Raum verlassen hatte. Dass auch er seine Gedanken nicht bei sich gehabt hatte, erkannte sie daran, dass er seine Pfeife vergessen hatte. Und das Windlicht auf dem Tisch.
    So würde sie die Stunden bis zu ihrem Tod wenigstens nicht im Dunkeln sitzen.

DRITTER TEIL
    CAPTAIN MACHEATH
    Macheath:
    Man may escape from Rope and Gun;
    Nay, some have outliv’d the Doctor’s Pill;
    Who takes a Woman must be undone
    Macheath:
    Ein Mann kann Galgen und Gewehr entkommen.
    Ja, einige haben des Doktors Pille überlebt.
    Wer aber eine Frau nimmt, geht zugrunde
    John Gay, The Beggar’s Opera,
Akt II, Szene VIII, Air XXVI

1

    Die erste Nacht in der Cross Keys Tavern war eine der schrecklichsten, die Henry je erlebt hatte. Das lag nicht nur an dem ungewohnten Ort oder Henrys völlig absurder Situation, sondern vor allem an den peinigenden und sich im Kreis drehenden Gedanken, die einfach keinen Sinn ergeben wollten. Henry hatte Angst vor dem Schlaf, weil er befürchtete, von Albträumen gequält zu werden, die womöglich gar keine Träume, sondern Erinnerungen waren.
    Im Zimmer nebenan war von Edgworth Bess nichts mehr zu hören, Colonel Charteris schien gegangen zu sein, und auch aus den anderen Hurenkammern kam kein Laut, trotzdem war an Schlaf nicht zu denken. Henry wendete und knetete die quälenden Gedanken wie einen Teig hin und her, bis daraus ein unverdaulicher Kloß geworden war.
    »Komm her oder verpiss dich.« Vor wenigen Stunden erst hatte er sein Handy in Mutter Blakes Gin-Shop gefunden und Sarahs wütende Nachricht gelesen. Er dachte an die seltsamen Worte des irren Geoff: »Sie sind dir auf den Fersen.« Und plötzlich erinnerte sich Henry wieder an die dunkle Pfütze auf dem Boden im Postman’s Park, an die blutigen Hände und seine Flucht in die Vergangenheit.
    »Du hast ihn umgebracht!«
    Es dämmerte bereits, als Henry schließlich einschlief, und als er mit einem Schrecken wieder aus den sich prompt einstellenden Albträumen erwachte, hatte er vermutlich kaum eine

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