Gegen alle Zeit
glaubt oder nicht, werter Mr. Wild, ich habe keine Ahnung, wo Jack steckt! Ich will es auch gar nicht wissen. Seit dem letzten Gespräch mit Euch hat sich mein Verhältnis zu Jack merklich abgekühlt. Wie Ihr sicherlich verstehen werdet.«
Mr. Wild lachte und fragte: »Und der andere Kerl?«
»Welcher andere Kerl?«, wunderte sich Bess. »Meint Ihr Blueskin?«
»Zum Teufel mit Blueskin!«, fauchte Mr. Wild und wollte mit der Faust auf den Tisch hauen. Doch im nächsten Augenblick überlegte er es sich anders, lächelte wieder leutselig, setzte sich auf seinen Stuhl und paffte genüsslich seine Pfeife. »Ich rede von Captain Macheath, wenn er denn so heißt. Ich meine den komischen Kauz, der dir geholfen hat, Jack zu befreien.«
»Was soll der Unsinn?«, antwortete Bess und versuchte von seinem Gesicht abzulesen, ob er sie auf die Probe stellen wollte. »Ihr solltet am besten wissen, wer Macheath ist und wie er wirklich heißt. Schließlich steht er in Euren Diensten.«
Statt einer Antwort lachte der Diebesfänger, doch das Lachen klang nicht belustigt, sondern überrascht oder ungläubig, und das wollte Bess nicht einleuchten. Es ergab keinen Sinn und wirkte unpassend.
»Du gibst also zu, dass du Jack bei seiner Flucht aus dem Newgate geholfen hast?«, fragte Mr. Wild und stieß eine Rauchwolke aus. »Zusammen mit Poll Maggott. Und diesem Captain Macheath.«
»Warum sollte ich etwas leugnen, das ohnehin alle Welt weiß? Schließlich steht mein Name in der Besucherliste. Und die Wärter werden mich gewiss wiedererkennen. Außerdem …« Bess wusste nicht, ob sie aussprechen sollte, was ihr seit ihrer Ankunft in der Chick Lane durch den Kopf gegangen war, doch dann ließ sie es darauf ankommen und sagte: »Es geht gar nicht um Jack, nicht wahr?«
»Worum sonst?«, antwortete Mr. Wild grinsend.
»Warum habt Ihr mich dann nicht ins nächste Roundhouse gebracht und Eure Belohnung kassiert? Wieso habt Ihr nicht die Konstabler geholt oder mich einem Richter vorgeführt, wenn es nur darum geht, ob ich Jack Sheppard bei der Flucht aus dem Gefängnis geholfen habe?« Sie wartete, ob Mr. Wild etwas erwidern würde, doch da er stumm blieb und weiterhin beinahe herausfordernd grinste, setzte sie hinzu: »Oh nein, dass ich hier in der Chick Lane sitze, hat nichts mit Jack oder dem Newgate zu tun. Und in gewisser Weise hat es auch nichts mit Edgworth Bess zu tun. Und deshalb frage ich Euch ein letztes Mal: Was wollt Ihr von mir, Mr. Wild?«
Der Diebesfänger schüttelte bedauernd den Kopf und stand auf. Er nahm die Kerze vom Tisch, ging zur Tür und klopfte dreimal ans Holz. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Bevor er nach draußen verschwand und Bess im Dunkeln zurückließ, deutete Mr. Wild auf einen Strohsack in einer Ecke des Raumes und sagte: »Schlaft gut, Mistress Lyon. Wir reden später weiter.«
Dann krachte die Tür zu, und der Riegel knarrte.
10
Während einer unruhigen Nacht (wenn es überhaupt Nacht war, denn es drang kein Licht in den fensterlosen Kerker, das die Tageszeit verraten hätte) wurde Bess von quälenden Gedanken und wilden Träumen heimgesucht. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie nicht den Mund gehalten und die Ahnungslose gespielt hatte. Wieso hatte sie bloß gesagt, das Ganze habe nichts mit Edgworth Bess zu tun? Dann wieder lachte sie über ihre Selbstvorwürfe, denn sie war ja tatsächlich eine Ahnungslose und musste gar nichts vorgeben und spielen. Was wusste sie schon? Nichts! »Ihr habt offensichtlich keine Ahnung, worum es hier geht.« Das hatte Maestro Pepusch gesagt, und zu dem Zeitpunkt hatte Albrecht Niemeyer noch nicht tot von der Decke gehangen. Bess ahnte, dass Hell and Fury etwas mit dem Tod zu tun hatte, aber was folgte daraus? Dass er im Auftrag von Jonathan Wild getötet hatte? Oder dass Mr. Wild wusste, wer hinter dem Auftrag steckte? War das Ganze womöglich doch nur ein dummer Zufall? Oder war Bess schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?
Wie dem auch sei, Bess nahm sich vor, fortan vorsichtiger und weniger hochmütig zu sein. Einziges Ziel musste es nun sein, aus Wild’s House herauszukommen. Auch wenn das bedeutete, den Kerker des Diebesfängers gegen eine Gefängniszelle in Newgate zu tauschen. Außerhalb dieser Mauern drohten ihr jahrelange Haft und Verbannung in die Kolonien, doch innerhalb des »Beichtstuhls« war sie ihres Lebens nicht sicher. Und mehr noch als den Tod fürchtete sie den Schmerz, der diesem vorangehen
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