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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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halbe Stunde geschlafen. Aus der Dämmerung war inzwischen diesiger Morgen geworden. Und der Albtraum ging unversehens weiter, denn er lag nach wie vor im Bett der ihm unbekannten Hure und hatte keine Ahnung, wie er aus diesem Irrsinn entkommen konnte. Oder ob das überhaupt ratsam war.
    Wieder kam ihm der Gedanke in den Sinn, der ihn schon gestern beschäftigt hatte: Vielleicht lag der Schlüssel tatsächlich in der »Beggar’s Opera«, die ja zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht geschrieben war und erst in vier Jahren uraufgeführt werden würde. Henry erinnerte sich an einen der »Zurück in die Zukunft«-Filme, in dem der Held seine Eltern zusammenbringen musste, damit er selbst geboren werden und somit in der Zukunft leben konnte. Obwohl das nur eine blöde Hollywood-Schmonzette und auf seinen Fall überhaupt nicht zu übertragen war, hielt er sich an diesem Gedanken wie an einem Rettungsring fest. Er musste John Gay ausfindig machen und ihm – ja, was eigentlich? Ihm den Captain Macheath vorspielen? Ihm seinen unglaublichen Erfolg als Bühnenautor vorhersagen? Oder ihm den Gauner Sheppard als Vorlage eines Theaterhelden schmackhaft machen? Damit er, Henry, ihn im 21. Jahrhundert auf der Bühne des Rosemary Lane Theatre darstellen konnte? War diese ganze Zeitreise nichts anderes als eine Bewährungsprobe? Eine zweite Chance?
    Vermutlich hätte er den Gedanken an John Gay gleich wieder verworfen, wenn Bess später beim Frühstück nicht so seltsam und alarmiert auf die Erwähnung des Autors reagiert hätte. Sie saßen sich im Schankraum gegenüber, und als er sie aufs Geratewohl nach dem Schriftsteller fragte, fiel ihr die sonst wie eingemeißelt wirkende Überheblichkeit geradezu aus dem Gesicht. Ihr Unterkiefer klappte nach unten, die Augen weiteten sich, und es verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Sie überspielte ihre Verwirrtheit und löffelte ihre Biersuppe, als würde diese tatsächlich nach etwas schmecken, doch Henry hatte genug gesehen, um zu wissen, dass Mr. Gay eine nicht unwesentliche Rolle in Bess’ Leben spielte. Und das bestärkte ihn in seinem Vorhaben.
    Zunächst aber wollte er ins Black Lion Inn, um sich nach Jack Sheppard und Blueskin Blake zu erkundigen. Und sei es nur, um ihnen zu beweisen, dass sie sich gründlich in ihm irrten. Außerdem war er sich durchaus bewusst, dass er mit den paar Shilling, die er in der Tasche hatte, nicht weit kommen würde, und außer Jacks Bande hatte er niemanden, der ihm Geld oder einen Job verschaffte. Auch wenn das bedeutete, zum Dieb und Räuber zu werden. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.
    Als Henry eine Stunde später das Black Lion durch den Kellereingang betrat und einen kurzen Blick in die Schankstube im Erdgeschoss warf, hielt ihn der fette Wirt mit einer Handbewegung zurück. Er fuhr sich mit der speckigen Hand durch das Pockengesicht und rief: »Oi, Captain! Sag Jack, dass er schleunigst verschwinden soll!«
    »Ist er oben?«, fragte Henry.
    »Verschwinden soll er. Und die ganze Bande mit ihm«, sagte der Wirt statt einer Antwort. »Die Konstabler haben mir gestern die verdammte Bude auf den Kopf gestellt und gedroht, dass sie bald wiederkommen. Und ich hab keine Lust, es mir mit Mr. Wild zu verscherzen. Nay, kann ich drauf verzichten. Sag ihm das!«
    »Ay, Sir«, sagte Henry, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und kam sich wie ein schlechter Schauspieler vor. Dann stieg er die schmalen Treppen hinauf bis zum Dachstuhl und betrat das Erkerzimmer, vor dem Godfrey Wache stand.
    »Captain M-Macheath!«, rief Jack strahlend aus und klopfte Henry erfreut auf die Schulter. »Ich hätte nicht gedacht, d-dich noch einmal zu sehen. Dir scheint dein L-Leben nicht viel wert zu sein.« Er lachte und forderte Henry mit sanfter Stimme auf: »S-setz dich, Hofnarr!«
    Außer Jack waren Blueskin, George und der Lackaffe William Page anwesend, dessen Äußeres sich aber seit gestern merklich verändert hatte. Er hatte seine Stutzerkleidung und die Lockenperücke abgelegt und trug stattdessen einen schlichten blauen Kittel und eine graue Wollschürze vor dem Bauch. Er erinnerte Henry an einen Schlachter oder Metzger.
    »Der Wirt will, dass wir verschwinden«, sagte Henry und setzte sich unters Erkerfenster. »Ihm geht der Arsch auf Grundeis.«
    »Ihm geht was ?«, knurrte Blueskin.
    »Er macht sich vor Angst in die Hosen«, erklärte Henry.
    »Dann soll er W-Windeln anlegen«, lachte Jack gutmütig und setzte sich Henry gegenüber.

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